Bernd Schuchter, Jacques Callot und die Erfindung des Individuums

Keine literarische Form ist letztlich so offen und unbegrenzbar wie die Biographie, weil offensichtlich ein Lebenslauf größer ist als jede literarische Form.

Bernd Schuchter ist bei Recherchen über den Dreißigjährigen Krieg, der ja auch nach vierhundert Jahren dreißig Jahre lang täglich ein Jubiläum liefert, auf den Kupferstecher Jacques Callot gestoßen, der vor allem mit seiner Darstellung der „Belagerung von Breda“ in Kennerkreisen ein Begriff ist.

Die fast unlösbare Erzähl-Aufgabe besteht nun darin, im amorphen und aus heutiger Sicht asymmetrischen Krieg ein Schicksal zu finden, das nicht nur selbst ein Individuum ist, sondern an das Individuum als Kernbotschaft der Kunst glaubt. Für diesen höchst romantischen Erzählansatz eignet sich Jacques Callot bestens, der Künstler wurde 1592 in Nancy geboren und starb dort 1635 im saftigsten Alter als Spätfolge von Ätzdämpfen, denen er bei seinen Ätzarbeiten ausgesetzt war.

In zehn Kapiteln friert der Held jeweils erbärmlich und reitet dabei einen biographischen Höhepunkt nach dem anderen an, sei es um sich auszubilden oder auch Aufträge zu akquirieren. Meteorologisch gesehen steuert der Kontinent einem Jahr ohne Sommer entgegen, wie die Mini-Eiszeit hintennach genannt wird.

Nach künstlerischen Stationen in Rom, Florenz und eben auch Breda bringt Callot seine Technik auf den modernsten Stand, gleichzeitig entwickelt sich auch eine multifunktionale Sichtweise, die dann in der berühmten „Belagerung“ zur Anwendung kommt. Das Besondere dabei: im Vordergrund sind die Kriegsteilnehmer als Individuen ausführlich porträtiert, im Mittelteil sind Kampfmaßnahmen dargestellt und im Hintergrund artet der Stich in eine Sandkiste aus, in der die Generäle ihre Spiele vorbereiten.

„Callot sprengte die Enge und verlor sich in der Tiefe des Raumes im Bild und der massenhaften Abbildung von Figuren auf kleinstem Raum, von denen jede ein einzigartiges Individuum ist.“ (91)

Bernd Schuchter erzählt anhand dieses Kupferstichs die Kunsttheorien und Philosophien, die in dieses Werk eingeflossen sind, gleichzeitig lässt er die Geschichte auch von Romantikern wie E.T.A. Hoffmann rezipieren. In einem Nachtrag berichtet er schließlich von den dünnen Spuren, die heute noch in Breda oder Nancy von Jacques Callot zu sehen sind.

Dabei wird die Biographie eines Individualisten zu einer Hommage an das Individuelle, das in jedem Menschen steckt. Der Schrecken des Krieges wird durch dies Erzählmaßnahmen einerseits für das Individuum der Gegenwart begreiflich, andererseits tut sich allmählich eine erzählte Szenerie auf, die uns Leser die gesamte Gegenwart wie ein Stück Dreißigjähriger Krieg empfinden lassen. – Erzählte Kupferstichkunst!

Bernd Schuchter, Jacques Callot und die Erfindung des Individuums
Wien: Braumüller Verlag 2016, 160 Seiten, 18,00 €, ISBN 978-3-99200-168-2

 

Weiterführende Links:
Braumüller Verlag: Bernd Schuchter, Jacques Callot und die Erfindung des Individuums
Wikipedia: Bernd Schuchter

 

Helmuth Schönauer, 03-11-2016

Bibliographie

AutorIn

Bernd Schuchter

Buchtitel

Jacques Callot und die Erfindung des Individuums

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Braunmüller Verlag

Seitenzahl

160

Preis in EUR

18,00

ISBN

978-3-99200-168-2

Kurzbiographie AutorIn

Bernd Schuchter, geb. 1977 in Innsbruck, lebt als Verleger und Autor in Innsbruck.