Hans Augustin, Berlin. Danziger Straße

In einer lebendigen Literaturszene entstehen immer wieder neue Literaturformen. Seit den Nuller-Jahren hat sich beinahe flächendeckend das Geschäftsmodell einer Vorlass-Literatur herausgemausert. Dabei werden Werke nicht für das Publikum verfasst, sondern für Kisten, die man in diversen Literaturarchiven aufstellt und für die Gegenwart sperrt. Manchmal haben Vorlass-Dichter allerdings nicht den Nerv, den eigenen Tod abzuwarten, und schreiben wieder was für das Publikum, weil sie die Stille in den Kisten nicht aushalten.

Hans Augustin hat einen Teil seiner Werke bereits im Archiv entsorgt, umso freudiger werden seine Bücher jetzt vom Publikum aufgenommen, weil es eine Belohnung ist, selbst noch bei Lebzeiten Texte eines noch Lebenden lesen zu dürfen.

Unter dem Titel „Berlin. Danziger Straße“ hat Hans Augustin Gedichte der Aufmerksamkeit und Hellhörigkeit gesammelt. In sieben Zyklen geht es um Reminiszenzen an die DDR, Reisen an den Rand des Tages oder die Lautlosigkeit des Beobachtens. Die thematische Klammer bilden dabei Berlin als Zentrum des Theaters und die DDR, als Meisterin des abgeschliffenen Alltags. Dazwischen sind die sieben Leben eines Dichters besungen, es geht um das Erwachen des Augenblicks, um Situationen, die sich als Luftblasen entwickeln, und um geographische Exkursionen nach Fukushima und Tel Aviv.

Rund um die Danziger Straße tummelten sich immer schon sozialistische Wolken, das Gewölk damals auf der anderen Seite ist in der Erinnerung an einen Sonntag geschuldet, an dem die Werktätigen bei Bratwurst Bier und Zigaretten am vollkommenen Gesellschaftsmodell arbeiten.

Die Nacht wäscht sich // den Tag ab / reibt an den Sternen / herum und hängt / den Mond zum Trocknen / auf die Leine / zwischen Hammer und Sichel // das Paradies hat / um vierundzwanzig Uhr / Sperrstunde (145)

Eine feste Konstante in den Gedichten bilden immer die Gewässer, die das Land durchziehen, magnetisch Häuser anlocken und auf ewig am Ufer verankern. Ganze Siedlungen sind am Uferrand geparkt und zu gewissen Stunden zieht der Fluss seine Schuhe aus und legt einen Traum quer zur Welt ins Bett.

In Fukushima freilich wird das Meer zum unheilbringenden Dämon, bemächtigt sich der Ortschaften und steht knietief an den Bars. Am Dachboden findet ein Geflüchteter ein Physikbuch und informiert sich über die Halbwertszeiten des Infernos.

Auf Bahnhöfen trinken schließlich die Reisenden hartgekochtes Wasser, das sich Kaffee nennt, und im Hotel XY nebenan sind die Betten feingemäht und der Alltagsschrott ist in den Koffern verstaut.

Hans Augustin schickt seine lyrisch-reisenden Protagonisten durchaus auch ins Herz des anderen oder lässt ein Paar aneinander müde werden, „nervenwund und der Zärtlichkeit überlassen.“ (141) – Es wäre wirklich schade gewesen, hätte der Autor seine Gedichte im Vorlass versenkt!

Hans Augustin, Berlin. Danziger Straße, Gedichte
Innsbruck: Edition Laurin 2017, 158 Seiten, 19,90 €, ISBN 978-3-902866-55-4

 

Weiterführende Links:
Edition Laurin: Hans Augustin, Berlin. Danziger Straße
Wikipedia: Hans Augustin

 

Helmuth Schönauer, 25-09-2017

Bibliographie

AutorIn

Hans Augustin

Buchtitel

Berlin. Danziger Straße, Gedichte

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Edition Laurin

Seitenzahl

158

Preis in EUR

19,90

ISBN

978-3-902866-55-4

Kurzbiographie AutorIn

Hans Augustin, geb. 1949 in Salzburg, lebt seit 1976 in Tirol.