Peter Paul Wiplinger, Tagtraumnotizen

Irgendwo zwischen Tag und Nacht, Leben und Tod, Vergangenheit und Zukunft sind die Tagträume zu Hause, die sich nicht greifen lassen, höchstens umrunden.

Peter Paul Wiplinger nennt seine Aufzeichnungen aus diesem täglich aufziehenden Schattenreich Tagtraumnotizen. Im ersten Anblick erinnern diese kompakten Prosazellen an schwere Keile, die in die Materie gerammt sind um entweder einen Baum zu fällen, eine Tür aufzuspreizen oder einen Stein zu sprengen. Die Texte sind nach innen spitz und nach außen stachelig gehalten, sie geben ihr Geheimnis nicht leichtfertig her, für die Lektüre braucht es einen langen Blick über die Zeilenränder hinaus und eine Ahnung von der Vergänglichkeit des ganzen Werkels, das sich Leben nennt.

Die Tagtraumnotizen sind zwischen 2011 und 2015 entstanden, sie beinhalten einerseits biographische Richtdaten des Autors, neigen sich diversen Verfasstheiten zu und lassen den Gedanken essayistischen Freilauf.

Am Beispiel eines Blattes zeigt sich die Verfahrensweise. Eine kleine Bewegung, ein Geräusch, die Veränderung eines Lichteinfalls setzen einen Assoziationsstrom in Gang, der zuerst die auslösende Bewegung ummantelt und dann auf eine Lebensweisheit zu driftet. Ereignisse des aktuellen Tages werden in einer ersten Reaktion zur Debatte gestellt und mit den eigenen Lebensentwürfen verglichen.

Schließlich lassen sich neue Relationen herstellen zwischen den allgemeinen, mächtigen Vorgängen und den individuellen Abwehrkämpfen. Die Texte des Peter Paul Wiplinger werden an diesen Stellen zornig und milde zugleich.

In der liebsten Jahreszeit, dem Herbst, sind dann auch die wichtigen Bilder einem kurzen Beschreibungslicht ausgesetzt, Lieblingsfotos, die abermals und abermals eine versunkene Stimmung aus der Kindheit evozieren, ein Kinderspiel, das in einem Reim mit dem Wort Russland endet, wo gerade die Angehörigen verschollen sind. Die Mutter ist aufgebahrt und bringt mit ihrer Stille kurz Ruhe in das Getöse vom Überlebenskampf der Kinder.

Dann gibt es Sequenzen, die in diversen Hauptstädten „spielen“, meist ist die Nacht in diesen Hotelzimmern nicht zum Schlafen gemacht. Zwischendurch meldet sich der Körper als Sammlung von Gebrechlichkeiten und Störungen zu Wort, plötzlich beschäftigt sich das denkende Ich mit diesem Körper und päppelt ihn auf, wenn er zusammengefallen ist. Der ganze Körper ist zu einem bunten Herbst geworden.

Wenn die Tagträume gut ausgehen, gibt es frische Luft oder die Ermunterung, Hinaus ins Freie!

Selbstverständlich spielen in diesen Erzählformationen Zeitgeschichte, Widerstand, Kindheit, miese Pädagogik und falsche Versprechungen eine starke Rolle. Phasenweise lässt sich diese zusammengepresste Erinnerungsmasse als Ausriss aus einem Geschichtsbuch für Individualisten lesen. An der großen Geschichte beißt sich das Individuum die Zähne aus, diesen Sätzen ist nur mit schwerem Erzählgerät beizukommen.

Als kleine Abrundung der schweren Masse von Tagtraumnotizen sind die Venezianischen Notizen gedacht. Hier gibt es Wasser zwischen den Zeilen, Sätze haben das Format einer Gondel, die durchaus über den Hades fährt. Zweizeiler sind erlaubt,

Venedig ist nicht meine Wiederkehr-Stadt, das ist Rom. (170)

Peter Paul Wiplingers Tagtraumnotizen sind massives Erzählgestein, die Dinge werden im Druck der Erinnerung noch zu Lebzeiten eine feste Materie, der Löß zwischen den Zeilen wird während der Lektüre ausgeblasen. Es bleibt fundamentales Material aus der Tag-Nacht-Zone.

Peter Paul Wiplinger, Tagtraumnotizen.
Wien: Löcker Verlag 2016, 180 Seiten, 19,80 €, ISBN 978-3-85409-678-8

 

Weiterführender Link:
Löcker Verlag: Peter Paul Wiplinger, Tagtraumnotizen
Wikipedia: Peter Paul Wiplinger

 

Helmuth Schönauer, 27-06-2016

Bibliographie

AutorIn

Peter Paul Wiplinger

Buchtitel

Tagtraumnotizen

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Löcker Verlag

Seitenzahl

180

Preis in EUR

19,80

ISBN

978-3-85409-678-8

Kurzbiographie AutorIn

Peter Paul Wiplinger, geb. 1939 in Haslach, Gymnasium in Hall in Tirol, lebt in Wien.