Phyllis Kiehl, Fettberg

Unter dem Kosmos des Zauberbergs von Thomas Mann stellt man sich oft eine morbide Gesellschaft vor, die jenseits finanzieller Sorgen in einem Sanatorium samt der Epoche zu Ende siecht.

Phyllis Kiehl greift diese seltsame Lebensweise eines Lebenssanatoriums auf und macht ganz auf Zeitgeist, indem sie das Problem des Körpergewichtskultes in ein erlesenes Sanatorium „Fettberg“ verlegt.

Das Gelände Fettberg ist hermetisch von der übrigen Welt abgeriegelt. Als sich zu Beginn eine Katze in die fette Zone verirrt, ist es für den Besitzer schier unmöglich, sie noch einmal lebend zurück zu bekommen. Aber nicht nur der Sicherheitsstandard ist enorm, auch die psycho-medizinischen Einrichtungen der Weiko-Sud Fastenklink spielen alle Stückeln.

So sind Laufbänder und andere Gerätschaften mit großen digitalen Anzeigen vernetzt, dass jeder im Haus weiß, wie viel Gramm es geschlagen hat. Die meisten bewegen sich im 150-Kilo-Bereich aufwärts, gefürchtet sind die sogenannten Papier-Checks, wo die Ungetüme nur mit einem Papierkleid ausgestattet in vollen Kilos der Community vorgeführt werden.

„Fettsein ist peinlicher als Drogen“ (25) sagt eine Insassin, und in einem Beobachtungsspiel resigniert ein Klient, „wir zweifeln an uns selbst“. (39)

In der Klinik gibt es keine Solidarität, keine Anteilnahme. Dafür aber ein schamlos geteiltes Drama den eigenen Körper betreffend, auf dessen Bühne sie alle täglich stehen. (75)

Als plötzlich aus einem brasilianischen Dschungelcamp der verrückte Oberarzt Tense angeworben wird, stellen sich in der Klinik die ersten Fragen.

Wer leitet überhaupt Fettberg und zu welchem Zweck? Warum wird niemand als geheilt entlassen? Wo verschwindet das ganze Geld, das für den Aufenthalt berappt werden muss?

Der neue Arzt nämlich bringt Schwung in die Bude, weil er den Patienten den Genuss des Übergewichtes und das Jammern über die eigene Befindlichkeit austreiben möchte und dabei neue Standards setzt.

Wie so oft, wenn etwas Neues zum Erfolg führt, putschen die Alten, die einen geruhsamen Lebensabend mit Schmerzen, Jammern und erotischem Geknete verbringen wollen. Während einer Modeschau für Fettler prallen die diversen Lebensmodelle hemmungslos aufeinander.

Phyllis Kiehl beschreibt in ihrem skurrilen Gesellschaftsroman den fehlgeleiteten Hunger einer ganzen Generation. Während vordergründig Körperpflege und Wellness zur Diskussion stehen, hat sich im Hintergrund längst ein medizinisches Regime eingenistet, das durchaus faschistische Züge trägt. Körperkult ohne solidarische humanistische Maßnahmen führt zwangsläufig ins Desaster, wobei das Individuum zur reinen Körper-Masse verkommt. – Ein grotesker Sanatoriums-Roman, bei dem wie in einem modernen Zauberberg die Fragen nach Sinn, Leben und Tod gestellt werden.

Phyllis Kiehl, Fettberg. Roman.
Berlin: Kulturmaschinen 2012. 236 Seiten. EUR 17,20. ISBN 978-3-940274-58-8.

 

Weiterführender Link:
Kulturmaschinen-Verlag: Phyllis Kiehl, Fettberg

 

Helmuth Schönauer, 08-02-2013

Bibliographie

AutorIn

Phyllis Kiehl

Buchtitel

Fettberg

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Kulturmaschinen-Verlag

Seitenzahl

236

Preis in EUR

17,20

ISBN

978-3-940274-58-8

Kurzbiographie AutorIn

Phyllis Kiehl, geb. 1966 in Bensheim/Bergstraße, lebt in Frankfurt und Paris.