Carla Buckley, Mondscheinjunge
„Sie drückt auf Senden und richtet die Augen wieder auf die Straße. Sie erblickt ein Objekt, das rasend schnell größer wird. Sie umklammert das Lenkrad und tritt auf die Bremse. Ein plötzlicher Schlag, das Auto gerät ins Schleudern. Im Scheinwerferlicht fliegen Baumstämme, Asphalt, ein heller Fleck, noch einmal Baumstämme vorbei. Mit einem Ruck bleibt das Auto stehen.“ (67)
Eine fahrlässige Unachtsamkeit und das Leben erhält vom einen auf den anderen Augenblick eine tragische Zäsur, der alles Kommende als schrecklichen Alptraum erscheinen lässt, aus dem es kein Erwachen und kein Entkommen mehr gibt. Wie sollen wir uns verhalten, wenn uns das Leben in ein Korsett drängt, das es uns nicht erlaubt, den richtigen Weg einzuschlagen?
Tyler wird gerade 14 Jahre alt und leidet an der seltenen Erkrankung Xeroderma pigmentosum, kurz XP Krankheit genannt, bei der ein zur Reparatur der Hautzellen notwendiges Enzym im Körper fehlt. Für Tyler, dem eine äußerst geringe Lebenserwartung prognostiziert wurde, ist die UV Strahlung der Sonne tödlich und selbst Autoscheinwerfer und Straßenbeleuchtungen bringen seine Gesundheit und sein Leben ihn in größte Gefahr. Das Haus, das gegen UV Strahlen abgeschirmt ist, kann er nur nachts verlassen und am Unterricht nur online teilnehmen. Mit Hilfe von Klopfzeichen macht Tyler darauf aufmerksam, dass er ein Zimmer betritt.
Eve Lattimore ist Tylers übervorsorgliche Mutter, deren Leben sich seit der schrecklichen Diagnose sich immer mehr um diese Krankheit kreist. Seit dieser Zeit führt sie genaueste Aufzeichnungen über die Zeiten der Sonnenauf- und untergänge und überzieht alle Fenster mit UV-schützenden Folien. Selbst die bedrohliche Gartenbeleuchtung der Nachbarn bedeutet für sie eine stete Quelle der Auseinandersetzung.
Tylers Vater fühlt sich durch Eves fanatischem Eifer an den Rand gedrängt, konzentriert sich zunehmend auf seine Arbeit, um Teilhaber einer Firma zu werden. Wer er sich damit rechtfertigt, dass sein berufliches Engagement wichtig sei, um die Kosten für Tylers Krankheit finanzieren zu können, überlässt er Tylers Betreuung fast ausschließlich seiner Frau.
David bleiben weder die Spannungen zwischen seinen Eltern als auch der Umstand, dass sich seine ältere Schwester Melissa vernachlässigt fühlt und immer öfter betrunken ist, nicht unbemerkt.
Als Eve in einer regnerischen Nacht ihren Mann mit dem Auto ihren Mann vom Flughafen abholen will, passiert ein schreckliches Unglück, welches das Leben aller Beteiligten grundlegend verändern soll. Während des Autofahrens schreibt Eve eine SMS und kann nicht mehr reagieren, als sie bemerkt, dass sich etwas auf der Fahrbahn befindet. Zu ihrem Schrecken stellt sie fest, dass sie die elfjährige Amy, die Tochter ihrer Nachbarin Charlotte, tödlich verletzt hat. Eve sieht sich aufgrund ihres Fehlverhaltens bereits im Gefängnis und die Vorstellung, dass Tyler ohne sie nicht überleben kann, lässt sie Fahrerflucht begehen.
Carla Buckley lässt tief in die Seele und Gedanken ihrer Protagonisten blicken, die den Leserinnen und Lesern zunehmend vertrauter werden. Die tiefgründige und präzise Schilderung menschlichen Verhaltens lässt einen beinahe erschaudern, weil immer wieder die Frage auftaucht, wie wir uns selbst in der Situation der jeweiligen Figuren verhalten würden.
Dabei vermengt sich die Suche nach den Grenzen von Schuld und Unschuld immer mehr zu einem unscharfen, schicksalhaften Lebensgespinst, aus dem die Wege richtigen Verhaltens nur kurz aufleuchten, ehe sie wieder im Dunkeln verschwinden. Ein überaus empfehlenswerter, fesselnder und sprachlich beeindruckender Roman, der seine Spannung nicht von der äußeren Handlung sondern von der Psychologie der inneren Auseinandersetzung seiner Helden bezieht.
Carla Buckley, Mondscheinjunge. Psychologischer Spannungsroman, übers. v. Eva Bonné [Orig. Titel: The Deepest Secret], ab 14 Jahren
München: Goldmann Verlag 2015, 480 Seiten, 15,50 €, ISBN 978-3-442-20448-9
Weiterführende Links
Goldmann Verlag: Carla Buckley, Mondscheinjunge
Homepage: Carla Buckley (engl.)
Andreas Markt-Huter, 10-11-2016