Peter Stephan Jungk, Die Dunkelkammern der Edith Tudor-Hart

Die Meisterwerke der Spionage laufen im ersten Schritt so geheim ab, dass nicht einmal die beteiligten Personen davon wissen. Der dazu passende Agentenroman dechiffriert dann aus der Sicht der Angehörigen das scheinbar unscheinbare Leben der Helden.

Peter Stephan Jungk schreibt mit den Dunkelkammern der Edith Tudor-Hart die Lebensgeschichte seiner Großtante, und heraus kommt ein Realo-Thriller. Die Suche nach den Rätseln, das Dechiffrieren einer Geheimkarriere und das Hereinholen eines entfernten Familienmitglieds in den Lichtkegel des Unvergesslichen sind dabei die Grundabsichten der Recherche.

Der Ich-Erzähler setzt mit einer symbolträchtigen Begegnung ein. Er ist so um die fünfzehn und die frische Welt der Sechziger Jahre schraubt sich in einer Aufbruchsstimmung voran. Er fährt mit seiner Großtante mit dem Riesenrad im Prater und am Höhepunkt und größten Ausblick stellt er ihr und sich die Frage: Hat sich das alles gelohnt?

Als Antwort gibt es die Lebensbeschreibung. Edith wird Fotografin und Kommunistin, was in den dreißiger Jahren untrennbar zusammenhängt. Nur wer hinschaut, kann jene Hebelpunkte erkennen, an denen man das System aushebeln muss. Unter den Dollfußianern wird Edith verhaftet, verhört und der österreichischen Technik der Gesprächsführung ausgesetzt.

Sie kommt wieder frei, lässt sich in England nieder, heiratet Tudor-Hart und ist so gut es geht für die Komintern unterwegs. Dabei macht sie sich beim britischen Geheimdienst als KGB-Spionin verdächtig und wird ein Leben lang an der Leine der Beobachtung gehalten. Edith Tudor-Hart könnte man in der Agentensprache eine von der eigenen Behörde aufgeweckte Schläferin nennen, die man mit Nachrichtenentzug zu foltern versucht.

In dieser politischen Wetterlage entwickelt sich das Leben zu einem einzigen Unruheherd. Der Mann wird gewalttätig, der Sohn lässt sich in seinen schizophrenen Schüben nicht mehr pflegen und muss abgegeben werden, die Kontakte zum Festland werden argwöhnisch überwacht, der Versuch, ein emanzipiertes Leben als politische Frau zu führen endet letztlich in den Dunkelkammern, worin sie mit ihren Fotos verschwindet.

Ein paar Muster aus dem fotographischen Werk der Edith Tudor-Hart sind als Mittelalbum im „Roman“ eingebunden. Unvergesslich ein Ausschnitt aus dem Wien um 1930, ein Bretterzaun trennt wie heutige Grenzanlagen die Slums des Wiener Lumpenproletariats von den Neubauten der von der öffentlichen Hand errichteten Wohnanlagen.

Peter Stephan Jungk erzählt die Biographie seiner Großtante als heftigen Thriller, bei dem sich ständig Fallen, Enttäuschungen und private Hinterhalte auftun. Dabei kommt eine Familiengeschichte zu Tage, in der alle zwar miteinander verstrickt sind, letztlich aber nichts mit einander zu tun haben dürfen, um sich nicht gegenseitig zu gefährden. Und die Eingangsfrage, ob sich das alles gelohnt habe, wird dem Leser übertragen. Dieser muss schließlich entscheiden, was er an seinen Helden für sinnvoll erachtet und was nicht.

Angenommen es war sinnlos, dann ist die diskrete Art der Geschichtsforschung des Autors ein würdevoller Versuch, politische Sinnlosigkeit darzustellen.

Peter Stephan Jungk, Die Dunkelkammern der Edith Tudor-Hart. Geschichten eines Lebens
Frankfurt a. M.: S.Fischer Verlag 2015, 319 Seiten, 23,70 €. ISBN 978-3-10-002398-8

 

Weiterführende Links:
Fischer Verlag: Peter Stephan Jungk, Die Dunkelkammern der Edith Tudor-Hart
Wikipedia: Peter Stephan Jungk

 

Helmuth Schönauer, 10-07-2015

Bibliographie

AutorIn

Peter Stephan Jungk

Buchtitel

Die Dunkelkammern der Edith Tudor-Hart. Geschichten eines Lebens

Erscheinungsort

Frankfurt a. Main

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

S. Fischer Verlag

Seitenzahl

319

Preis in EUR

23,70

ISBN

978-3-10-002398-8

Kurzbiographie AutorIn

Edith Tudor-Hart, geb. 1908 in Wien, KGB-Agentin und Fotografin, starb 1973 in Brighton.<br />Peter Stephan Jungk, geb. 1952 in Santa Monica, lebt in Paris.