Jürg Schubiger, Nicht schwindelfrei

Wir haben jede Menge Lehrbücher für Kinder und Jugendliche darüber, wie man Wissen und Erkenntnis erlangt und eine Persönlichkeit aufbaut, wir haben aber kaum Lehrbücher, die zeigen, wie man das Wissen wieder zur Ruhe bettet und seine Persönlichkeit auflöst.

Jürg Schubiger zeigt mit seiner poetischen Figur eines etwas derangierten älteren Herrn, wie sich vielleicht das Umfeld verändert, wenn eine Persönlichkeit sich in Gedächtnis-Fransen verliert.

Herr Paul ist an manchen Tagen nicht mehr ganz Gedanken-fit, beim Körper würde man von nicht schwindelfrei sprechen, aber auch die Gedanken sind vielleicht bloß ein Schwindel, und es macht letztlich nichts aus, wenn sie sich jeden Tag aufs Neue ungewöhnlich formieren.

Die Erinnerung ist vielleicht nur ein Sonderfall des Vergessens. (15)

Natürlich erinnert manches an eine Gedächtniskrankheit, aber es ist nicht Demenz, was da Paul von sich gibt, sondern eine besondere Art der Betrachtung, die an ein Kind erinnert, das sich gerade ein Weltbild zusammenstellt.

In den Bergen ist sowieso nichts los. Außer der Natur natürlich. (8)

Das Abtropfen der Gedanken wird aus einer Außensicht gezeigt, liebenswürdige Figuren lassen Paul gewähren und nehmen ihn, so gut es eben geht, nicht wörtlich. Paul selbst hat auch die Gefühlswelt neu geordnet, von seiner Ehe ist dann nichts mehr übriggeblieben, „eines Tages war er bloß noch ihr Mann“, aber seine Frau nimmt es nicht wörtlich.

Wohl aus therapeutischen Gründen kriegt Paul die Mitgliedschaft in einem Museum geschenkt und darf sich dort eine Zeitlang als Hilfswärter bewähren.

Im Museum merkte er, dass seinem Gedächtnis neue Felder zugewachsen waren. Der Behälter seines Kopfes fasste weit mehr, als er angenommen hatte. […] Pauls Erinnerung ging unbekümmert über den Bildrand hinaus. (83)

Nach einem Fehlalarm geht auch diese leichte Bewachungstätigkeit von Kunstwerken zu Ende, wahrscheinlich hat noch zu viel Sinn in dieser Arbeit gesteckt. Denn während das Gedächtnis Kapriolen schlägt, läuft das Leben auf schlichte, handfeste Sätze hinaus:

Die Bäume übertrieben nicht. (93)

Und schließlich pendelt sich alles in einem großen Frieden ein.

Sonntag: Die Bilder schwiegen. (110)

Jürg Schubiger zeigt in der Schlichtheit einer Kunst-Kindlichkeit Marke Robert Walser, wie die wahren Gedanken wanken, wenn sie sich selbst gegenüber stehen. Alles um die endgültige Wahrheit herum ist in Bewegung, nichts ist schwindelfrei. – Eine beruhigende Vision vom Verlöschen der Identität zu Lebzeiten.

Jürg Schubiger, Nicht schwindelfrei. Roman.
Innsbruck: Haymon 2014. 112 Seiten. EUR 17,90. ISBN 978-3-7099-7139-0.

 

Weiterführende Links:
Haymon-Verlag: Jürg Schubiger, Nicht schwindelfrei
Wikipedia: Jürg Schubiger

 

Helmuth Schönauer, 08-04-2014

Bibliographie

AutorIn

Jürg Schubiger

Buchtitel

Nicht schwindelfrei

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2014

Verlag

Haymon Verlag

Seitenzahl

112

Preis in EUR

17,90

ISBN

978-3-7099-7139-0

Kurzbiographie AutorIn

Jürg Schubiger, geb. 1936, lebt als Schriftsteller in Zürich.