Richard David Precht, Anna, die Schule und der liebe Gott

„Dieses Buch ist für Eltern geschrieben. Es möchte ihnen Argumente liefern, um gegen die bestehende Praxis aufzubegehren, die vielen von ihnen Kopfschmerzen bereitet und sie oft ohnmächtig zurücklässt.“ (10)

Wie hat sich unser Schulsystem zu dem entwickelt, was es heute ist? Welche methodischen und didaktischen Formen des Unterrichts sind nicht mehr zeitgemäß und stehen dem Wesen von Kindern diametral entgegen? Wie müsste eine Schule aussehen, in der die Erkenntnisse der Entwicklungs- und Lernpsychologie berücksichtig und umgesetzt werden. Auf all diese Fragen versucht Philosoph Richard David Precht verständlich, engagiert und wortreich Antworten zu finden.

Wie notwendig eine Bildungsreform in Hinblick auf ein immer offensichtlicheres Versagen unseres gegenwärtigen Bildungssystems ist, wird in der Einleitung thematisiert. Weder Schüler, Eltern noch Lehrer fühlen sich in dem althergebrachten Klassenzimmer-Modell mit seinen ständig wechselnden 45-Minuten Unterrichtseinheiten wohl. Vor allem aber nimmt die Zahl derer, die aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen ihr Bildungsziel nicht mehr erreichen, was nicht nur aus gesellschaftspolitischer sondern auch aus wirtschaftlicher Sicht die Alarmglocken läuten lassen sollte.

Im ersten Kapitel „Die Bildungskatastrophe“ wird zunächst einmal der Frage nachgegangen was Bildung eigentlich sein soll und wie sich die Vorstellungen davon Laufe der Zeiten gewandelt haben. Humboldt sah sein Bildungsideal als Bildung, die allen Bürgern zugänglich sein solle. Im Mittelpunkt steht neben dem Erlernen Grundkenntnissen Lesen, Schreiben, Rechnen, auch eine Bildung der Gesinnung für eine Teilnahme am politischen Leben.

Für den Münchner Reformpädagogen Georg Kerschensteiner war Bildung Ausbildung zum praktischen Training in den verschiedensten Künsten und Fertigkeiten.

Gebildet ist, wer vieles kann, und nicht der, der vieles weiß. Und wer vieles kann, wer sein Wollen, Machen und Tun kultiviert, der formt seinen Charakter zu  dem eines guten und mündigen Staatsbürgers. (42f)

Aber auch die soziale Ungerechtigkeit innerhalb unseres Bildungssystems fand den 60-iger Jahren des 20. Jahrhunderts ihre Kritiker, wenn z.B. der deutsche Philosoph und Pädagoge Georg Picht das dreigliedrige Schulsystem, das nach vier Jahren gemeinsamer Grundschule die Schüler bereits mit 10 Jahren nach verschiedenen Schultypen trennt und damit die bestehende Klassenstruktur der Gesellschaft fortführt. Unsere Schulen haben sich von einem Ort der Bildung zunehmend in einen Ort der Selektion verwandelt, in der die Startbedingungen für das spätere Berufsleben grundgelegt werden.

Gerade in der Gegenwart, wo gut ausgebildete Jugendliche fehlen, sei es auch aus volkswirtschaftlicher Sicht umso wichtiger, dass möglichst viele Schülerinnen und Schüler eine möglichst gute Schulausbildung erhalten.

Unterstützt und verstärkt durch die zahlreichen Bildungstests wie PISA, PIRLS u.a. haben sich im Unterricht vor allem das „Werten und Bewerten“ von Schülern und damit auch jene Inhalte verstärkt, die sich möglichst leicht und exakt messen lassen.

Im Kapitel „Die Bildungsrevolution“ versucht Precht einen Bildungsbegriff herauszuarbeiten, der den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht wird und der imstande ist, mit den unbekannten Veränderungen in der Zukunft zurechtzukommen. Hier steht vor allem die Idee des lebenslangen Lernens im Mittelpunkt, auf das auch die Schule vorbereiten soll. Besonders wichtig ist es jedoch die zahlreichen Erkenntnisse auch der Biologie des Lernens in Form eines kreativen schulischen Unterrichts und Umfelds adäquat umzusetzen.

Dass es dazu nicht nur neue Schulen sondern auch neue Lehrer braucht liegt dabei auf der Hand. Für Precht sind die Anzeichen einer Veränderung im Bildungssystem bereits erkennbar und lassen sich nicht mehr aufhalten. Eine Revolution im Bildungssystem würde gleichzeitig aber auch zu einer notwendigen Revolution im gesellschaftlichen, politischen Leben führen.

In diesem Sinne ist der Umbau unseres Bildungssystems der vielleicht wichtigste Teil einer großen sozialen Transformation, die mit den zivilbürgerlichen Protesten und der Forderung nach mehr Demokratie und aktiverer Beteiligung bereits begonnen hat … (22)

Mit viel Enthusiasmus und eloquent setzt sich der Vater und Philosoph Richard David Precht mit einem Schulsystem auseinander, dass in der kritisierten Form vor allem in Deutschland und Österreich zu finden ist. Das ideenreiche und informative Sachbuch kann nicht nur allem an der bildungspolitischen Diskussion beteiligten Politikern und Fachleuten sondern vor allem auch Eltern empfohlen werden, die sich um die schulischer Wirklichkeit ihrer Kinder Gedanken machen.

Richard David Precht, Anna, die Schule und der liebe Gott. Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern
München: Goldmann Verlag 2013, 352 Seiten, 20,60, ISBN 978-3-442-31261-0

 

Weiterführende Links:
Goldmann Verlag: Richard David Precht, Anna, die Schule und der liebe Gott
Wikipedia: Richard David Precht

 

Andreas Markt-Huter, 23-10-2014

Bibliographie

AutorIn

Richard David Precht

Buchtitel

Anna, die Schule und der liebe Gott. Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern

Erscheinungsort

München

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

Goldmann Verlag

Seitenzahl

352

Preis in EUR

20,60

ISBN

978-3-442-31261-0

Kurzbiographie AutorIn

Richard David Precht ist Philosoph, Publizist und Autor und wurde in Solingen geboren. Er promovierte 1994 an der Universität Köln und war fünf Jahre Wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem kognitionspsychologischen Forschungsprojekt am Lehrstuhl für Schulpädagogik. Als Honorarprofessor lehrt er Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg und an der Musikhochschule Hanns Eisler Berlin.