Georgi Gospodinov, Physik der Schwermut

Vielleicht sind Gemütszustände wie sonnig, traurig, wolkig, echauffiert oder schläfrig nichts anderes als Reaktionen auf die physikalische Umgebung, vielleicht sind wir nur ein Messgerät, das etwas misst, was uns nicht bekannt ist.

Georgi Gospodinov nennt seinen feinnervigen Roman über die Empfindsamkeit der Figuren, die durch das Jahrhundert getrieben werden, Physik der Schwermut. Wenn man schon nicht erklären kann, warum die Ereignisse so geschehen sind, sollte man wenigstens beschreiben, wie die davon Berührten darauf reagieren.

In unzähligen Prosa-Zellen, die oft wie physikalische Versuchsanordnungen ausgelegt sind, wird von einem Großvater erzählt, der den Ersten Weltkrieg als Kind vom Hörensagen mitgekriegt hat, ein verloren gegangenes Kind hält sich an die Sage vom kretischen Minotaurus, der mit sich allein in einem Labyrinth der Verzweiflung ausgesetzt wird, und in der sogenannte TIME BOMB werden Ereignisse gespeichert und in die Zukunft geschossen.

Größere Überschriften verweisen auf die Physik, die zumindest Rätsel zur Verfügung stellt, wenn sie schon nicht alles beantworten kann. Teilchenphysik der Trauer beschreibt anhand von Listen oder emotionalen Testfeldern, wie der Einzelne großen Kräften ausgesetzt wird, bis er nicht mehr wahrgenommen wird. Das alles mündet dann in einen  sogenannten Weltherbst, der ähnlich wie der Weltkrieg den ganzen Kontinent vergänglich macht.

Diese großen Vorgänge freilich zeigen sich in kleinen Fragestellungen, wenn etwa das Kind die Oma fragt, ob es wohl auch sterben muss, oder wenn Pubertierende im kommunistischen Bulgarien auf die Kraft von Sperma setzen, das als bulgarisches Nivea die Haut der Partnerin verschönern soll, wenn es schon zu sonst nichts taugt.

In den Roman sind immer wieder Stellen des Innehaltens eingebaut, da kann der Leser warten, bis alle Figuren beisammen sind, ehe es in die nächste Geschichte hineingeht. Der Großteil der Fragestellungen entstammt der Sichtweise eines Kindes, das jahrelang im Tiefparterre wohnt und die Welt auf der Höhe des Gehsteigs sieht. Und dann wird plötzlich wie ein physikalisches Gesetz die Behauptung aufgestellt, dass in der antiken Mythologie keine Kinder vorkommen, außer jene, die den Göttern geopfert werden oder sonst wie umkommen. (78)

Physik der Schwermut entwickelt sich letztlich zu einem persönlichen Lehrbuch, das einen versteckten oder in hunderte Partikel atomisierten Erzähler zeigt, wie er sich durch das halbe Jahrhundert schlängelt, an historischen Anspielungen vorbei, immer auf der Suche nach Ausweg und Glück. „Ich flüchte in den Schutzraum der dritten Person“ (146) beschreibt jene Grenze, wo das Persönliche auf das Allgemeingut trifft.

Am Anfang werden ein paar Eingangssätze entwickelt, wie der Roman starten könnte, am Schluss gibt es ein paar Enden, die alle gleich wahrscheinlich sind. Dazwischen halten sich die Figuren an die Quanten des Alterns, die eine eigene Grammatik entwickeln. In der Jugend ist alles voller Verben, im Erwachsenenalter erstarrt alles zu Substantiven, im Alter brechen dann die Adjektive los: „langsam, uferlos, neblig, kühl oder durchsichtig wie Glas“. (296) Die Physik der Schwermut umfasst jedes Alter, jeden Menschen, jedes Schicksal.

Georgi Gospodinov, Physik der Schwermut. Roman. A. d. Bulgar. von Alexander Sitzmann. [Orig.: Fizika na tagata, 2012].
Graz: Droschl 2014. 331 Seiten. EUR 23,-. ISBN 978-3-85420-849-5.

 

Weiterführende Links:
Droschl Verlag: Georgi Gospodinov, Physik der Schwermut
Wikipedia: Georgi Gospodinov

 

Helmuth Schönauer, 10-08-2014

Bibliographie

AutorIn

Georgi Gospodinov

Buchtitel

Physik der Schwermut

Originaltitel

Fizika na tagata

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2014

Verlag

Droschl Verlag

Übersetzung

Alexander Sitzmann

Seitenzahl

331

Preis in EUR

23,00

ISBN

978-3-85420-849-5

Kurzbiographie AutorIn

Georgi Gospodinov, geb. 1968 in Jambol, lebt in Sofia.