Carlo Lucarelli, Bestie

Allmählich hat das Genre Thriller Standards entwickelt, die in punkto Plot, Figuren, Zeitgeist und Graphik relativ eng gefasste Muster ins Auge fassen.

Carlo Lucarelli, der Thriller- Autor aus Bologna, nimmt seine Heimat-Stadt meist unter politischen und kulturrelevanten Aspekten ins Visier. Im aktuellen Fall der „Bestie“ taucht sauber gegendert Grazia Negro als Kommissarin auf, die während des ganzen Falls damit beschäftigt ist, schwanger zu werden.

Schon von der ersten Seite weg treibt eine unheimliche Bestie ihr Unwesen. Während der erste Tote, als Neffe eines Mafia-Paten noch eine gewisse Anziehungskraft für kriminelle Logik erahnen lässt, passen eine simple Wohnungsvermieterin oder ein Tunesier absolut in kein gängiges Ermittlungsschema.

In den Verschnaufpausen des Serienkillers versucht sich der Ermittlungsapparat ein wenig zu konsolidieren, aber dann häufen sich wieder die Fälle, von denen man nichts sieht als unheimliche Bissspuren an den Opfern. Wahrscheinlich ein Drogensüchtiger, der entgleist ist, oder ein Psychopat, der seine Identität nicht zusammenhalten kann, vermuten die Profis.

Grazia Negro geht alle erdenklichen Möglichkeiten durch und wird von einem Dienst-Lover unterstützt, der aus dem Nichts aufgetaucht und im Kommissariat gelandet ist. Zu Hause ist der echte Lover erblindet und dennoch inbrünstig damit beschäftigt, Spermien für die künstliche Befruchtung zu produzieren. Die Prozedur geht ihm ziemlich auf den Männlichkeits-Keks.

Bei Befragungen und Briefings tröpfelt immer auch die politische Situation Bolognas in den Text, von der ehemals linken Hochburg sind nur noch Träumer und Verelendete übrig geblieben, die Stadt ist ein digitales Massenereignis geworden, das sich in wesentlichen Teilen in eine Cloud zurückgezogen hat. - Im Netz tauchen dann auch die verschlüsselten Botschaften des Killers auf, „ich werde euch der Reihe nach holen!“ (82)

Als dann noch die Ermittlerin in ihrem Panda von einem wilden SUV-Tier angefallen wird, kommt der Fall an eine Grenze, wo es nur noch weniger Schritte bedarf, um alles aufzuklären.

In einem Nachwort schreibt Carlo Lucarelli, dass jedem das Herz herausgerissen wird, der vorzeitig die Lösung des Falles verrät, also gibt es hier keine herzzerreißende Aufklärung.

Sonst läuft der Thriller professionell getaktet ab. Parallel zum Schicksal der Ermittelnden entwickelt sich das Grauen, das Internet wird zur großen Koordinationsstelle für geheime Botschaften, die Stadt selbst ist unüberschaubar, diffus und lebt von vergangenen Sätzen. In einem Pot voller unauffälliger Sätze schwimmen manchmal Botschaften nach oben und erhalten als Seufzer, Hilferuf oder Fluch den Status einer Kapitelüberschrift. Der Roman ist schnell geschnitten und lässt dem Leser durch seine lockere Konsistenz immer das Gefühl, der Souverän des Textes zu sein. – Eine gelungene Ablenkung vom echten Leben.

Carlo Lucarelli, Bestie. Thriller. A. d. Ital. von Karin Fleischanderl. [Orig.: Il sogno di volare, Turin 2013].
Wien, Bozen: Folio 2014. 270 Seiten. EUR 19,90. ISBN 978-3-85256-647-4.

 

Weiterführende Links:
Folio Verlag: Carlo Lucarelli, Bestie
Wikipedia: Carlo Lucarelli

 

Helmuth Schönauer, 29-08-2014

Bibliographie

AutorIn

Carlo Lucarelli

Buchtitel

Bestie

Originaltitel

Il sogno di volare

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2014

Verlag

Folio Verlag

Übersetzung

Karin Fleischanderl

Seitenzahl

270

Preis in EUR

19,90

ISBN

978-3-85256-647-4

Kurzbiographie AutorIn

Carlo Lucarelli, geb. 1960 in Parma, lebt in Bologna.