Christian Futscher, Frau Grete und der Hang zum Schönen

Der Hang zum Schönen ist meist eine elegante Umschreibung für Kitsch. Wenn die Volksseele auf die Ästhetik stößt, gibt es oft seltsame Bremsspuren, die dann bodenständig genannt werden.

Christian Futscher lässt in seinem Roman über die jüngere Zeitgeschichte Österreichs eine gewisse Frau Grete auftreten, die im ersten Teil erzählt, wie sie das Leben der Kriegs- und Nachkriegszeit gemeistert hat, und die im zweiten Teil als Ruheständlerin ihr Leben noch einmal erzählt, als Bestätigung, dass sie alles richtig gemacht hat.

Frau Grete ist eine lebende Sprechbombe, die ununterbrochen erzählt, dabei in Endlosschleifen gerät und erst durch den Rumpler eines frischen Kapitels wieder in eine neue Sequenz verfällt. Die Heldin glaubt felsenfest daran, dass man das Leben vor allem schön reden muss, wenn man seine Schönheit erfahren will. Dabei ist schon der Start dieser Lebenserzählung ein Desaster, die damals fünfjährige Ich-Erzählerin erlebt im Wiener Gemeindebau den Bürgerkrieg und sieht einen Kämpfer, wie er kurz aus der Mülltonne einen Schuss abgibt und dann wieder im Müll verschwindet.

Eine ähnlich skurrile Wahrnehmung ist sämtlichen Geschehnissen unterlegt. Der Vater isst gerade eine Knackwurst, wird von einem Auto überfahren, und bei der Obduktion steckt noch die halbe Wurst im Mund. Vom Krieg bleiben so Sager, dass die Heldin immer etwas zu essen gehabt hat und schließlich Tanzschule gegangen ist. (47) Dabei ist der Bruder im Lager verhungert und die Mutter hat keinen Bissen mehr hinunter gebracht.

Auch die sogenannte Entjungferung spielt sich in der Steiermark wie in einem Comic ab. Auf der Flucht vor dem gerade Geschehenen radelt die Sex-Pionierin in eine Fensterscheibe und empfindet die Verletzungen „oben und unten“ als ortsüblich. Nach dem Krieg gibt es dann Hochzeiten, Arbeit im Hotel oder in der Wurstabteilung, irgendwann gibt es kommt dann der  Sohn und bei der Geburt heißt es die Lippen zusammenbeißen, denn das Geburtspersonal mag kein Geschrei.

Frau Grete entwickelt in ihrem Drang zum Schönen eine sagenhafte Lebenserfahrung und kann aus allen Situationen etwas Brauchbares herausschlagen.

Ja und dann ist sie fünfundsiebzig und hat ein gutes Gefühl, denn sie hat viel erlebt und viel zum Erzählen, ihre Mutter „ist zu gut und deppert für diese Welt gewesen“ (103), ein Bekannter ist im Stehen gestorben. (113) Sie selbst ist noch nie in der Kapuzinergruft gewesen und ist mit dem Körper zufrieden. Den Rest erzählt sie vielleicht ein andermal.

Christian Futscher lässt die Frau Grete ungebremst von der Erzähl-Leine los, alles hängt nach einem höheren Bauplan grotesk miteinander zusammen, manches muss man mehrfach machen, bis es als Erlebnis sitzt, die Routine der Arbeit kann genauso schön sein wie ein Ausflug, wenn man sich nicht zu viel erwartet. - Ein wundersames Porträt einer österreichischen Nachkriegsseele!

Christian Futscher, Frau Grete und der Hang zum Schönen.
Wien: Czernin 2015, 207 Seiten, EUR 19,90, ISBN 978-3-7076-0527-3

 

Weiterführende Links:
Czernin Verlag: Christian Futscher, Frau Grete und der Hang zum Schönen
Wikipedia: Christian Futscher

 

Helmuth Schönauer, 29-04-2015

Bibliographie

AutorIn

Christian Futscher

Buchtitel

Frau Grete und der Hang zum Schönen

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Czernin Verlag

Seitenzahl

207

Preis in EUR

19,90

ISBN

978-3-7076-0527-3

Kurzbiographie AutorIn

Christian Futscher, geb. 1960 in Feldkirch, lebt in Wien.