Günther Kaip, Kiesel

Das gute lyrische Ich vermag sich zwischendurch zu materialisieren und kann dabei allerhand Gestalt annehmen. Eine besonders innige und dennoch massige Form stellt in diesem Spiel der Kiesel dar, der als Unikat und Massengut hervortreten kann.

Günter Kaip gibt dem Kiesel Auslauf in neunundneunzig Gedichten. Darin tritt der Kiesel aktiv aus den Zeilen hervor und wird zu einem Künstler, oder aber er wird passiv herumgereicht und am Ende eines Tages spürt er bloß noch ein warme Hand, die sich zurückgezogen hat.

[…] / Den ganzen Tag ist der Kiesel bereit, aber er kann sich nicht verwandeln. (43)

Das Einsatzgebiet dieses lyrischen Helden ist die Grenzmaterie zwischen Wasser und Ufer, Erde und Glas, Sand und Schatten. Seine Freunde sind fallweise Fische, die sich mit dem Laich herumplagen, oder Jäger, von denen er höher eingeschätzt wird als ein kapitaler Hirsch. Zwischen Auftrag und Zeitvertreib liegt oft nur eine Nuance.

20 // Der Kiesel schnitzt eine Flöte, / bläst sie, gleitet auf ihren Tönen / in vernebelte Wälder, in von Tau gewaschenes Licht. // Zurück bleibt das Leben am Fluss - / ufernde Träume im Schatten der Bäume. (22)

Gerade namenlose Gegenden, diffuse Lichtverhältnisse, undefinierte Jahreszeiten und unklare Stimmungsverhältnisse verstehen einander am ehesten, wenn sie absichtslos aufeinander losgelassen werden. Der Kiesel ist stets dazwischen, moderiert manchmal eine Runde und sinkt dann wieder ins Kiesbett zurück.

33 // Seit der letzte Überschwemmung / wachsen dem Kiesel Haare / aus rostenden Drähten, / dazu zwei Augen mit leerem Blick, / ein Doppelkinn mit tiefer Falte, / in der sich allerlei Getier sammelt, / dem Tag zu huldigen, ihrem Leben. (37)

Jede Sequenz scheint einen neuen Kiesel auszufassen, der sich perfekt in seiner Umgebung bewegt. Die einzelnen Kiesel-Helden sind am ehesten mit einem Kiesel-Volk zu vergleichen, das bei jedem Wetter ausschwirrt um die Umgebung frisch abzuscannen. Die Ergebnisse werden vielleicht protokolliert und eine spezielle Kieselabteilung muss sie lesen. Zumindest setzt sich ab und zu einer für diesen Zweck in Positur:

[…] / meint der Kiesel und setzt sich eine Brille auf um zu lesen. (52)

Themen, die ein Einzelner nicht abarbeiten kann, überlässt er in der Hoffnung auf Unterstützung seinem Nachbarn am Fluss, welcher mit seinem Fließen die Gedichte zusammenhält.

Günther Kaip fügt meisterlich die einzelnen Kiesel zu einander und puzzelt daraus ein lyrisches Mosaik, an das die Wellen der Poesie schlagen.

Günther Kaip, Kiesel. Gedichte
Wien: Klever 2014, 103 Seiten, 15,90 €, ISBN 978-3-902665-80-5

 

Weiterführende Links:
Klever Verlag: Günther Kaip, Kiesel
Wikipedia: Günther Kaip

 

Helmuth Schönauer, 08-07-2015

Bibliographie

AutorIn

Günther Kaip

Buchtitel

Kiesel

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2014

Verlag

Klever Verlag

Seitenzahl

103

Preis in EUR

15,90

ISBN

978-3-902665-80-5

Kurzbiographie AutorIn

Günther Kaip, geb. 1960 in Linz, lebt in Wien.

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