Martin Amanshauser, Der Fisch in der Streichholzschachtel

Um eine Gesellschaft so halbwegs allumfassend und gerecht beschreiben zu können, bedarf es eines außenliegenden Erzählstandpunktes, der ein Minimum an Überblick verspricht.

Martin Amanshauser verwendet für seine epochale Piraten-Saga „Der Fisch in der Streichholzschachtel“ gleich zwei erzählende Ausgucke. Zum einen lässt er den Ich-Erzähler Fred aus der Sicht einer desaströsen Karibikfahrt in der Gegenwart erzählen, zum anderen schickt er den italienischen Chronisten Salvino als zweiten Ich-Erzähler an Bord eines Piratenschiffes in einen Zeitflash dreihundert Jahre zurück.

Da beide Ich-Erzähler gleich authentisch sind und in der Physik an einem Ort nie mehr als ein Objekt sein kann, tut sich allein in dieser erzählenden Doppelstrategie schon eine verrückte Glaubwürdigkeitskrise auf, zumal die Protagonisten immer wieder betonen, dass sie von der Welt ohnehin nur jeden zweiten Satz für wahr halten.

Die Karibikreise mit dem Kreuzfahrtschiff  Atlantis beginnt gespreizt gegenwärtig, der Ich-Erzähler Fred von Alarm-Fred feiert seinen baldigen Geschäftsabschluss, seine Frau will unbedingt ein drittes Kind, die Tochter pubertiert und der Sohn entwächst den Abenteuern der Kindheit. Fred hat heftige Hodenschmerzen, weil er sich gerade hat sterilisieren lassen. Auf der „Atlantis“ geht alles seinen modernen Weg zwischen Konsum und Psycho-Krise, bis eine gigantische Flut jegliche Kommunikation mit der Außenwelt zerstört.

Zeitgleich, aber um dreihundert Jahre zurückversetzt, blubbert das Piratenschiff „Fin del Mundo“ durch die Gegend, es ist von der Welle matt gesetzt worden und legt jetzt staunend an der Atlantis an. An Bord befinden sich echte Piraten, die sofort nach Beute am Kreuzfahrschiff Ausschau halten. Ebenfalls ist ein Ich-Erzähler an Bord, der als italienischer Chronist die Geschehnisse halbwegs logisch für die Nachwelt aufschreiben will.

Nun bricht ein Kampf um die gültige Wirklichkeit aus, die Gegenwartler halten die Piraten für eine perfekt kostümierte Zirkustruppe, die Piraten mokieren sich über Handy, Netz und sexueller Freizügigkeit. Denn es geht nicht nur um Beschreibung und Benennung der fremden Kultur, über den Zeit-Gap hinweg kommt es zu echten Austauschen. Ein Pirat kriegt gleich einmal sein erstes Kondom verpasst und einen Geschlechtsverkehr obendrein, umgekehrt wird der Alarm-Fred in die Kunst der magischen Kugeln eingeführt, eine schwangere Piratin kommt an Bord und gebiert eine schöne Tochter, die sie gleich zur Adoption frei gibt, die pubertierende Tochter hingegen geht voll in einer Piratenliebschaft auf.

Mitten im Kulturtransfer, der mehrmals an der Kippe zur Gewalt steht, schnappt sich Fred ein Boot und flüchtet in seine Realität zurück. Dort gilt die Atlantis als verschollen und er selbst als verrückt, zumal er eine Tochter verloren und eine andere gewonnen hat.

Die beiden Chronisten verabschieden sich am Schluss noch mit gebührender Ernsthaftigkeit, beide lassen aber den Wahrheitsgehalt der Fiktion offen, wie es sich für echte Chronisten gehört. Einer davon nennt sich übrigens Amanshauser. – Wunderbare Demaskierung aller Lug- und Wahrheitsbilder!

Martin Amanshauser, Der Fisch in der Streichholzschachtel. Roman.
Wien: Deuticke 2015, 574 Seiten, 22,60 €, ISBN 978-3-522-06292-4

 

Weiterführende Links:
Deuticke Verlag: Martin Amanshauser, Der Fisch in der Streichholzschachtel
Wikipedia: Martin Amanshauser

 

Helmuth Schönauer, 10-09-2015

Bibliographie

AutorIn

Martin Amanshauser

Buchtitel

Der Fisch in der Streichholzschachtel

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Deuticke Verlag

Seitenzahl

574

Preis in EUR

22,60

ISBN

978-3-522-06292-4

Kurzbiographie AutorIn

Martin Amanshauser, geb. 1968 in Salzburg, lebt in Wien und Berlin.