Pier Paolo Pasolini, Kleines Meerstück

Ein Lese-Abenteuer ist es allemal, einem Klassiker beim Versickern im Sand des Vergessen-Werdens zuzuschauen, wodurch er noch einmal auf Hochglanz poliert wird.

Pier Paolo Pasolini gilt in den Bereichen Film, Politik und Erzähl-Theorie als Erneuerer und Erfinder, seine Lehren haben unmittelbar Auswirkungen im Umgang mit der Homosexualität, in der Erforschung peripherer Kulturen und im politischen Ausgleich zwischen der Hauptstadt und den nördlichen Randlagen der Autonomien.

Zu seinem vierzigsten Todestag werden zwei frühe Erzählungen aufgelegt und mit entsprechenden Kommentaren versehen. In diesen „Klein-Erzählungen“ ist im Prinzip das Gesamtwerk mitgedacht.

„Kleines Meerstück“ ist eine spielerisch mit Wellen, Schlamm und losem Boden arbeitende Meditation über diesen seltsamen Lebensabschnitt der Pubertät, worin sich Haltungen, Neigungen, Lüste und Programm entwickeln und zu einer Maßnahme führen, nämlich dem Leben als Erwachsener. In der Gegend um Cremona spielt ein Zwölfjähriger am Fluss, der sich bald im Meer auflösen wird. Die täglich sich verändernden Wasseradern, die Botanik, die Hormonlage lassen neue Gefühle aufkommen, die vor allem eines ins Auge fassen, weg aus dieser Gegend.

„Wenn ich einmal groß bin, werde ich Dichter und Schiffskapitän“, fasst der Junge das Programm zusammen. (30) In seinen ersten Analysen versucht der Erzähler dem geographischen Streifen zwischen Triest, Venedig und Österreich historisch etwas abzuringen, aber er trifft nur auf eine geschichtslose Ebene voller lokaler Geschichten. (35)

Darin zeigt sich auch der Vorgang des Autors, der von den Geschichten vor Ort ausgehend über einen meditativen Realismus zu einer überregionalen Gemengelage und schließlich zu einem Geschichtsbewusstsein kommt. Das Entstehen dieser Gedanken, vorgeführt an einem kleinen Stück Meer mit dem großen Meer im Hintergrund, macht dieses „Meerstück“ zu einem Lehrstück des mäandernden Denkens.

Das Dorfstück „Romàns“ erzählt von einem jungen Kaplan, der in seinen homoerotischen Gelüsten bald einmal an die Grenzen kommt. Romàns ist ein Dorf im Dorf, worin sich die Gesellschaft wie in einer Vitrine spiegelt. Dabei sieht er die wahren Zusammenhänge zwischen den einzelnen Ständen, die soziale Unwucht der Gesellschaft und die Scham, über die wahren Verhältnisse zu sprechen. Mit dem Dorfschullehrer versucht er, in Romàns eine Utopie zu verwirklichen, aber es bleibt die Gnadenlosigkeit der Zustände, die keine Analyse vertragen.

Er wartete nur darauf, verjagt zu werden. (138)

Kleines Meerstück und Romàns kann man aus der zeitlichen Entfernung als zwei Meisterstücke des Denkens lesen. Einmal begeistert die wabernde Fließ-Bewegung um die Entwicklung eines Programms herum, zum zweiten die realistische Analyse eine Soziotops, die in einer Fluchtbewegung endet. - Glanzstücke.

Pier Paolo Pasolini, Kleines Meerstück. A. d. Ital. von Maria Fehringer. Mit einem Text zur Entstehungsgeschichte von Nico Naldini und einer Nachbemerkung von Maike Albath
Bozen: folio 2015, 159 Seiten, 19,90 €, ISBN 978-3-85256-671-9

 

Weiterführende Links:
Folio Verlag: Pier Paolo Pasolini, Kleines Meerstück
Wikipedia: Pier Paolo Pasolini

 

Helmuth Schönauer, 17-10-2015
 

Bibliographie

AutorIn

Pier Paolo Pasolini

Buchtitel

Kleines Meerstück

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Folio Verlag

Übersetzung

Maria Fehringer

Seitenzahl

159

Preis in EUR

19,90

ISBN

978-3-85256-671-9

Kurzbiographie AutorIn

Pier Paolo Pasolini, geb. 1922, wurde 1975 bei Ostia ermordet.