Gianrico Carofiglio, Trügerische Gewissheit

Wie bei allen großen Dingen im Leben ist auch in der Kriminalistik die Gewissheit zur falschen Zeit ein Luder und kann einen Fall verhunzen.

Gianrico Carofiglio lässt in seinem Kriminalroman die Figuren einzeln und übersichtlich auftreten, die trügerischer Gewissheit lässt Maresciallo Pietro Fenoglio jeweils den Gedankenfaden unterbrechen, wenn er zu logisch wird. Erst durch Geduld und Hartnäckigkeit, den Grundtugenden des Sherlock Holmes, den der Held begeistert liest, kommt der Fall voran.

Fenoglio ist ein sogenannter feiner, intellektueller Ermittler, der alles tut, um keinen Fall aufnehmen zu müssen. Zu Beginn schiebt er deshalb eine Verhaftung ein, damit er erst später zur Leiche muss. Bei der Verhaftung erweist er sich als Sir, der Mitzunehmende darf noch seinen Jungen ins Krankenhaus begleiten, ehe er dann doch fast erleichtert in den Knast geht.

Dann muss also doch der Gang zum Tatort angetreten werden, Wohnung, Blutlache, Opfer, Zeugen, alles ist wie für ein Kammerspiel oder Streichquartett minimalistisch ausgelegt. Gute Zeugen müssen einen Tick haben, die aktuell angesprochene Nachbarin schreibt sich Tag und Nacht Autokennzeichen und Zeitpunkt der Notiz auf, so hat sie für alle Fälle eine Ziffernkombination, mit der sich recherchieren lässt, auch wenn nicht klar ist, wofür.

So wird gleich einmal ein junger Tatverdächtiger verhaftet, der kein Alibi aber eine schöne Freundin hat. Fenoglio traut dem schnellen Erfolg nicht und macht weiter. Der Ermordete dürfte ein Schwein gewesen sein, das Geld verleiht und sexuell alters-perverse Neigungen pflegt. Mit ein paar intellektuellen Umrundungen knackt er den Fall, die Lösung darf hier nicht verraten werden.

Das Mitreißende an diesem Kammerstück-Krimi liegt an den intellektuell-psychologischen Einschätzungen, die so ein Mord immer mit sich bringt. Der Ermittler hat ein sogenanntes AFA-Spiel entwickelt, dieses „Auf-die-Frage-Antworten“ gleicht einer semantischen Formel, mit der emphatisch und human das Gegenüber forensisch zerlegt werden kann.

Fenoglio wendet diese Methode wie in einem Feldversuch an der Uni an. Er hängt sich voll in die Fälle hinein, ist aber froh, wenn sie gelöst sind. Anschließend geht er auf die Uni, um das fertig zu studieren, was er als Ermittler instinktiv gelernt hat.

Kriminalfälle als Universitätsstoff, Ermittlung als Feldforschung, Forensik als Staatskunde – im italienischen Staat liegen diese Ansätze auf der Hand, weshalb italienische Krimis fast immer staatstragend sind.

Gianrico Carofiglio, Trügerische Gewissheit. Kriminalroman, a. d. Ital. von Monika Lustig [Orig. Titel: Una mutevole verità; Turin 2014].
Bozen: folio Verlag 2016, 138 Seiten, 14,90, ISBN 978-3-85256-685-6

 

Weiterführende Links:
Folio Verlag: Gianrico Carofiglio, Trügerische Gewissheit
Wikipedia: Gianrico Carofiglio

 

Helmuth Schönauer, 22-04-2016

Bibliographie

AutorIn

Gianrico Carofiglio

Buchtitel

Trügerische Gewissheit

Originaltitel

Una mutevole verità

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Folio Verlag

Übersetzung

Monika Lustig

Seitenzahl

138

Preis in EUR

14,90

ISBN

978-3-85256-685-6

Kurzbiographie AutorIn

Gianrico Carofiglio, geb. 1961 in Bari, lebt in Bari.