Frau Wolle, Tiroler Märchen
In einer Zeit in der sich die Nachrichten aus aller Welt wie Märchen anhören, erweisen sich Märchen aus dem eigenen Land als erfrischende Wohltat.
Die bekannte Tiroler Märchenerzählerin Frau Wolle hat sich die mehr als 150 Jahre alte Märchensammlung der Brüder Zingerle vorgenommen und 23 Märchen ausgewählt, um sie in ein zeitgemäßes Sprachkleid zu gießen. Die langen und oft verschachtelten Satzgebilde der Tiroler Literaturwissenschaftler sind dabei einfachen und prägnanten Sätzen gewichen, die beim Lesen glatt wie Butter von der Zunge gehen. Zusätzlich hat die Autorin die Sammlung mit zwei Märchen aus dem Erzählschatz der Welt ergänzt, die von ihr phantasievoll nach Tirol verlegt worden sind.
Frau Wolle gelingt es mit einer eleganten Leichtigkeit, die Welt der Märchen in wunderbaren Farben auszumalen und mit einem feinen Hauch Humors zu überziehen. Ein Beispiel dafür ist das Märchen Teilen mit dem Teufel, in dem es einen Bauern gibt, der ein Feld hatte, auf dem nichts wachsen wollte. Und das hatte folgenden Grund:
Es [das Feld, Anm. A.M.-H.] war nämlich so steil, dass sogar die Ameisen herunterkugelten. Es war so steil, dass er oft klagte, er müsste die Erdäpfel annageln, um sie nicht zu verlieren. Ja, hätte der Bauer Hühner gehabt, er hätte ihnen Steigeisen anlegen müssen. (176)
Die Tiroler Märchen überraschen über die Zeiten hinweg mit einer Weisheit, die auch heutige Leser erstaunt inne halten lassen. In der Märchensammlung findet man eine Vielzahl an Namen und Figuren, wie z.B. Stinkkäfer, Rechtwurm, Linkwurm und Haselwurm oder der Aschentagger. Andere Märchen wie z.B. das Rumpelstilzchen kehren im Tiroler Gewand als Purzinigele wieder.
Als überaus spannend an den Tiroler Märchen erweist sich, dass einzelne Geschichten nicht selten überraschende Wendungen nehmen. Im Märchen Der Pechvogel steht ein Mann im Mittelpunkt, dessen Dummheit beim Lesen beinahe körperliche Schmerzen verursacht. Im Märchen Was ist das Schönste, Stärkste und Reichste auf der Welt? hingegen findet man eine Bauerntochter, deren Witz und Klugheit die Männerwelt alt aussehen lässt.
Die Zeitlosigkeit so mancher Geschichten erstaunt, wie z.B. das Märchen Die verstorbene Gerechtigkeit, in der ein Bauer von einem Grafen, einem Advokaten und einem Richter durch kostspielige Prozesse um seinen Hof gebracht wird. Sein letztes Geld verwendet er dazu, für die Gerechtigkeit die Totenglocke läuten zu lassen.
Illustriert wird das Buch von der Künstlerin Irmingard Jesserick, der es mit ihren phantasievollen Kunstwerken gelingt, ein eigenes Universum zwischen den Märchen zu erschaffen. Da sieht man dann Hunde und Enten in Tiroler Tracht, einen Stinkkäfer mit einem Trachtenhut oder eine Hexe, die aus einer Seilbahngondel schaut. Das Titelbild mit der Pomeranzenfrau zeigt auch eine Taube, die in den folgenden Illustrationen wiederkehrt und nach Innsbruck kommt.
Die Tiroler Märchen sind eine Sammlung überaus spannender und unterhaltsamer Geschichten und können in vielen Details ihre Tiroler Herkunft nicht verleugnen. Mit ihrer Weisheit und ihrem Witz gliedern sie sich aber nahtlos in den großen Schatz der Märchen der Welt ein und bieten für Jung und Alt ein märchenhaftes Lese- und Vorlesevergnügen.
Frau Wolle (Karin Tscholl), Tiroler Märchen. Nach der Sammlung der Brüder Zingerle. Ill. von Irmingard Jeserick.
Innsbruck: Tyrolia-Verlag 2007, 192 Seiten, 24,90 EUR, ISBN 978-3-7022-2858-3
Weiterführende Links:
Frau Wolle: Homepage
Sagen.at: Ignaz und Joseph Zingerle, Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland
Tyrolia: Tiroler Märchen