Ingeborg Maus, Justiz als gesellschaftliches Über-Ich

Justiz als gesellschaftliches Über-Ich„In der Dominanz einer Justiz, die ein moralisch angereichertes »höheres« Recht gegenüber den lediglich mit »einfachem Recht« befaßten [sic!] übrigen Staatsgewalten – und der Gesellschaft – geltend macht, ist die Regression zu vordemokratischen gesellschaftlichen Integrationsmustern offenkundig.“ (S. 21)

Ingeborg Maus‘ kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der Bundesverfassungsgerichte und der Rechtsprechung im Allgemeinen als Teil der demokratischen Verfassung, als deren zentraler Teil die Gewaltenteilung verstanden wird, stellt das oft wenig beachtete Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Justiz in das Zentrum ihrer Untersuchungen.

In acht Aufsätzen werden unterschiedliche thematische Perspektiven zur Position der Justiz in politischen Systemen untersucht, die von den theoretischen Grundlagen der Gewaltenteilung und der Funktion der Justiz in einer Demokratie über die „Gesetzesbindung“, Methodik und Funktion der Justiz in der Struktur nationalsozialistischer Rechtsnormen bis hin zum Verhältnis von Recht und Moral und seine Folgen in der Gegenwart reichen.

Der Beitrag „Justiz als gesellschaftliches Über-Ich“ betrachtet aus psychologischer Sicht den Aufstieg der Judikative seit dem 20. Jahrhundert als "Vaterersatz" für den verloren gegangenen Monarchen und zieht dabei zahlreiche Parallelen. Dabei wird darauf hingewiesen wird, dass die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichtes, hier am Beispiel Deutschlands, nicht mehr aus der Verfassung abgeleitet wird, sondern als dieser vorausgehend verstanden wird.

Im Beitrag „Zur Ideengeschichte der Gewaltenteilung und der Justizfunktion“ wird dem Verhältnis von Demokratie und Justiz in „nationalstaatlicher und europäischer Perspektive“ (S. 46) nachgegangen. In diesem Rahmen wird auf den sowohl auf europäischer Ebene als auch in den Nationalstaaten zu beobachtenden Trend hingewiesen, dass die Rechtsentwicklung sich zunehmend von der demokratischen Gesetzgebung auf die Seite der Rechtsprechung hin verlagert hat, wodurch die Balance des Gewaltenteilungssystems deutlich aus dem Gleichgewicht gebracht worden ist.

Eine Abhandlung über verschiedene theoretische Ansätze von Gewaltenteilungsmodellen, die von Montesquieu, über Hobbes bis hin zu Kant und Rousseau reichen, wird die wichtige Bedeutung unterschiedlicher Auffassungen von Gewaltenteilung für die theoretische Grundlage von Demokratie in der Geschichte herausgearbeitet. Dabei wird auf die zwei gegenläufigen Prinzipien von „Volkssouveränität“ hingewiesen: Der „Unterwerfung aller Bürger unter dem staatlichen Gewaltenmonopol“ steht die „Unterwerfung der Staatsapparate unter die gesetzgebende Souveränität des Volkes“ gegenüber, was am Beispiel der Ideen von John Locke und Immanuel Kant ausführlich erläutert wird.

In zwei Beiträgen verweist die Autorin auf die historische Erfahrung der juristischen Praxis während der Zeit des Nationalsozialismus, in der, mit dem Mittel der unbestimmten Fassung von Gesetzen, für die Auslegung durch die Justiz im Sinne des NS-Regimes ein weites Spielfeld eröffnet werden konnte. Der Justiz ist es gelungen, die im Nationalsozialismus erworbenen zusätzlichen Kompetenzen in die Nachkriegszeit mitzunehmen und seither die Gesetzgebung durch eine verstärkte Verbindung von Recht und Moral in ihren höchstgerichtlichen Urteilen, maßgeblich zu beeinflussen.

Ingeborg Maus zeigt auf, dass die unmittelbare Einbeziehung von moralischen Prinzipien in den Rechtsbegriff, die Grenzen staatlicher Regulierung aufhebt. Dies geschieht, wenn Gerichte bestimmen, dass nur von ihnen festgelegtes „richtiges Recht“ als Recht Gültigkeit zukomme. Maus vertritt demgegenüber letzten Endes ein volkssouveränes Demokratiemodell, das die legislative Gewalt ausschließlich in Händen der Bürger als Souverän wissen will, die nicht durch eine übergeordnete Deutung und Festlegung von höheren Verfassungsgesetzen durch die Justiz eingeschränkt werden darf. Damit soll das Volk als Souverän und Gesetzgeber der Herr über die Verfassung sein, an die sich die staatliche Gewalt hingegen zu halten habe.

„Justiz als gesellschaftliches Über-Ich“ bietet eine tiefgründige Analyse heutiger Gewaltenteilung, in der das Spannungsverhältnis zwischen Volkssouveränität und unabhängiger Justiz über die Deutungshoheit von Gesetzen anschaulich aufgezeigt und als zentrales Thema demokratischer Staaten erkannt wird.

Ingeborg Maus, Justiz als gesellschaftliches Über-Ich. Zur Position der Rechtsprechung in der Demokratie, aus d. Reihe Wissenschaft, stw 2229
Berlin: Suhrkamp Verlag 2018, 266 Seiten, 18,50 €, ISBN 978-3-518-29829-9

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Ingeborg Maus, Justiz als gesellschaftliches Über-Ich
Wikipedia: Ingeborg Maus

 

Andreas Markt-Huter, 30-09-2019

Bibliographie

AutorIn

Ingeborg Maus

Buchtitel

Justiz als gesellschaftliches Über-Ich. Zur Position der Rechtsprechung in der Demokratie

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Suhrkamp Verlag

Reihe

Wissenschaft stw 2229

Seitenzahl

266

Preis in EUR

18,50

ISBN

978-3-518-29829-9

Kurzbiographie AutorIn

Ingeborg Maus ist emeritierte Professorin für politische Theorie und Ideengeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.