Urs Widmer, Stille Post

Buch-Cover

Geschichten leben ja nicht nur von der eigenen Substanz, von der sie erzählen, sondern sie vermitteln auch durch ihre Umgebung, in der sie sich aufhalten, eine zusätzliche Botschaft. So macht es durchaus Sinn, wenn ein Autor im reifen Alter seine verstreuten Geschichten zusammenpackt und unter einem neuen Motto frisch gekämmt versammelt.

Urs Widmer stellt unter dem programmatischen Titel "Stille Post" sogenannte kleine Prosa vor, die es aber groß in sich hat. In einer Übungskonstellation wird das Kommunikationsspiel "stille Post" anhand einer raffinierten Initiationsgeschichte in den Alpen literarisch angewendet.

Der schwer-alpine Text, worin dumpfe Gestalten aufbrechen, um in aufkommender Geschlechtsreife die Welt zu erkunden, wird in diverse Sprache übersetzt, bis er am Schluss wieder ins Deutsche zurückkommt. Mittlerweile ist aus dem Schweiz-alpinen "Walser-Text" ein interkontinentaler Welt-Text geworden. In einer galaktischen Schöpfungsgeschichte deuten seltsame Wesen das Universum neu.

Im Anfang war Stille; das All still, still. Wenn es Götter gab (ein Name für was?), dann wohnten sie in Löchern, die das All überhaupt ausmachten. (22)

In diesem unendlichen Kosmos gibt es die möglichsten und unmöglichsten Körper, Satelliten und Gedankenkonstellationen, oft wird etwas, was bei uns Sonne heißt, einfach anders bezeichnet, zum Beispiel als das Gelbe.

Im heroischen Drama von Macht und Ohnmacht schwingen der Mächtige, seine Mutter, der Folterer oder der Pressesprecher perfide Reden. Wer mächtig ist, kann jeden Scheiß daher reden und diesen auch noch für wichtig halten. Dem Ohnmächtigen bleibt neben der Qual der Folter auch noch die Qual durch diese hohlen Sätze. Die Sprache der Mächtigen ist durchgehend eine Folter, heißt eine Binsenweisheit im Machtspiel.

Richard III, der das Böse schlechthin verkörpert, wird zum Vater einer Diktatur, wie sie die Welt wohl noch nie gesehen hat. "Natürliche Tode gab es keine, auch bei den Bauern nicht" (99), heißt es lapidar.

Albträume bei Tag und bei Nacht, eine Reise nach Istanbul, die im eigenen Schlafzimmer endet, eine Exkursion nach Timbuktu, bei der sich Zwerge am Polarkreis die Nase anstoßen, eine eingestürzte Bergwelt, worin alle Geliebten verschwinden, sind weitere Motive für peinigende Strategien, mit denen Ungemach verbreitet  werden kann.

In einer verrückten Geschichte überlebt schließlich ein Bewohner Nagasakis, indem er während einer Reise in Hiroshima mit Glück nur minimal verstrahlt wird, während anschließend Nagasaki untergeht. Knapp entkommen durch Verdoppelung des Unglücks, heißt seine Überlebensdevise.

Urs Widmers Geschichten sind jeweils auf Irritation aufgebaute Fallbeispiele einer Abenteuergeschichte. Als Leser lässt man sich mit lockenden Sätzen in die Geschichte hineinziehen, dann aber macht Urs Widmer den Erzählsack zu und es gibt ordentlich Surrealismus und Alptraum. Erschöpft und geläutert wird der Leser von dieser kleinen Prosa in kleinen Raten entlassen.

Urs Widmer, Stille Post. Kleine Prosa
Zürich: Diogenes 2011, 169 Seiten, 20,50 €, ISBN 978-3-257-06790-3

 

Weiterführende Links:
Diognes-Verlag: Urs Widmer, Stille Post

 

Helmuth Schönauer, 09-09-2011

 

 

Bibliographie

AutorIn

Urs Widmer

Buchtitel

Stille Post

Erscheinungsort

Zürich

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

Diogenes

Seitenzahl

169

Preis in EUR

20,50

ISBN

978-3-257-06790-3

Kurzbiographie AutorIn

Urs Widmer, geb. 1938 in Basel, lebt in Zürich.

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