Jan Gerber (Hg.), Die Untiefen des Postkolonialismus

jan gerber, die untiefen des postkolonialismus„Auch wenn solche antisemitischen und plumpen Angriffe auf die Singularität des Holocaust mittlerweile nicht mehr ganz so offen vorgetragen werden, hat in den vergangenen Jahren mit dem Siegeszug der Postkolonialen Studien eine weiche, aber nicht weniger problematische Form der Relativierung an den Universitäten und in den Feuilletons Einzug erhalten. Vertreter des Postkolonialismus sehen zwischen den Gräueltaten des deutschen bzw. europäischen Kolonialismus höchstens noch graduelle Unterschiede zum Holocaust und zeichnen eine fast direkte Linie von kolonialen Verbrechen nach Auschwitz.“ (S. 14)

Wurde in der Vergangenheit die Einmaligkeit des Holocaust vor allem von rechten politischen Gruppen relativiert so kommen in der Gegenwart immer häufiger Standpunkte zur Sprache, die den Holocaust als Folge des europäischen Kolonialismus betrachten, der sich nur im Detail von den kolonialen Gräueltaten unterscheidet. Zahlreiche renommierte Autorinnen und Autoren setzen sich in ihren Beiträgen kritisch mit den Ansätzen der Postkolonialen Studien zum Holocaust auseinander.

Zunächst reist Jan Gerber in seinem einleitenden Beitrag „Holocaust, Kolonialismus, Postkolonialismus. Über Opferkonkurrenz und Schuldverschiebung“ den Themenschwerpunkt des Hallischen Jahrbuch ab. Nach einem kurzen historischen Rückblick auf die Entwicklung der Erinnerungskultur zum Holocaust nach dem Ende des 2. Weltkriegs wird der Versuch unternommen, die Spezifik der Vernichtung der europäischen Juden im Nationalsozialismus detailliert herauszuarbeiten. Dies erscheint dem Autor umso nötiger zu sein, als die unreflektierten Vergleiche vergangener und gegenwärtiger Verbrechen mit dem Holocaust stetig zunehmen und ideologisch wie politisch, für die Untermauerung eigener Standpunkte und Urteile verwendet werden. Dies kommt ganz besonders in postkolonialen Theorien und Postcolonial Studies zum Ausdruck, in denen die Verbrechen des Kolonialismus qualitativ auf eine gleiche Ebene mit dem Holocaust gestellt werden.

Philipp Lenhard untersucht in seinem Beitrag „Weiße Juden“ den Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus der vor allem in postkolonialen Theorien unausgesprochen nivelliert wird. Dabei spielt die Geschichte der Entwicklung einer „Identität der Kolonisierten“ (S. 49) eine bedeutende Rolle, in der die europäische Zivilisation pauschal für den Nationalsozialismus verantwortlich gemacht worden ist. In diesen Theorien werden Rassismus und Antisemitismus gleichgesetzt und als politische Waffe benutzt. Die barbarische Gewalt der Europäer in den Kolonien, der imperiale Rassismus bildet dabei die Vorgeschichte zum Holocaust. Lenhard zeigt auf, wie diese Ideen auch benutzt werden, um die Juden von Opfern zu Tätern zu machen, denen in Israel eine Vernichtungspolitik gegen Palästinenser unterstellt wird.

Auch die zahlreichen weiteren Beiträge wie z.B. Steffen Klävers Artikel „Vergleichsgeschichten. Postkolonialtheoretische Deutungen des Holocaust“ gehen der Erinnerungskultur und den Diskussionen um die Singularität des Holocaust nach, wobei vor allem die Diskussion und Auseinandersetzung mit den Theorien des kamerunischen Theoretikers des Postkolonialismus Achille Mbmebe eine zentrale Rolle spielt, die auch im Beitrag von Randi Becker „Gleichheit und Differenz. Achille Mbembe, der Holocaust und das Judentum“ näher beleuchtet wird.

Weitere Beiträge stammen u.a. von Peter Siemionek, Jonas Kreienbaum, Andreas Harstel, Florian Hessel u.a. in denen verschiedene Erscheinungsformen postkolonialer theoretischer Ansätze in der Geschichte und Gegenwart zur Sprache kommen.

„Die Untiefen des Postkolonialismus“ setzt sich in über vierzig umfangreichen bis kurzen Beiträgen fundiert mit der Vereinnahmung und Instrumentalisierung des Holocaust in postkolonialen Theorien sowie mit deren ideologischen Grundlagen und politischen Zielen auseinander.

Eine überaus wichtige, informative und präzise Darstellung einer gesellschaftstheoretischen Auseinandersetzung in der Gegenwart, in der die Grundlagen zahlreiche Denkmuster postkolonialer Theorien offengelegt und ihre Fehler, Schwächen und ideologischen Ziele aufgedeckt werden.

Jan Gerber (Hg.), Die Untiefen des Postkolonialismus. Aus d. Reihe: Hallische Jahrbücher, Bd. 1, mit Beiträgen von Philipp Lenhard / Steffen Klävers / Randi Becker / Peter Siemionek u.a.
Berlin: Edition Tiamat 2021, 428 Seiten, 24,70 €, ISBN 978-3-89320-274-4

 

Weiterführender Link:
Jan Gerber (Hg.), Die Untiefen des Postkolonialismus
Wikipedia: Jan Gerber
Wikipedia: Philipp Lenhard

 

Andreas Markt-Huter, 24-02-2022

Bibliographie

AutorIn

Philipp Lenhard / Steffen Klävers / Randi Becker / Peter Siemionek u.a.

Buchtitel

Die Untiefen des Postkolonialismus

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Edition Tiamat

Herausgeber

Jan Gerbe

Reihe

Hallische Jahrbücher, Bd. 1

Seitenzahl

428

Preis in EUR

24,70

ISBN

978-3-89320-274-4

Kurzbiographie AutorIn

Jan Gerber studierte an der Universität Halle und Leipzig und ist Historiker und Politikwissenschaftler und arbeitet an einem Buch über die Linke und den
Holocaust.

Philipp Lenhard wurde in Bielefeld geboren und studierte Judaistik, Philosophie und Anglo-Amerikanische Geschichte an der Universität Köln. Derzeit schreibt er eine jüdische Kulturgeschichte der Freundschaft im 20. Jahrhundert.