Meir Shalev, Fontanelle

Buch-Cover

Familienromane haben es so an sich, dass sie über alle Erzählufer treten und dann schwer in der Hand liegen.

Fontanelle ist so ein gewichtsschwerer und dennoch luftiger Familienroman und hat etwas von den russischen Realisten an sich. Das ist vielleicht auch notwendig, um die Wurzeln des israelischen Joffe-Clans freilegen zu können, denn die Joffes sind aus Russland nach Israel eingewandert und manchmal ziehen sie sich mit ihren Erinnerungen eben an ihre Wurzeln zurück.

Zwei Sachen fallen dem Leser gleich auf: Das so genannte Vorspiel dauert fast hundert Seiten, darin wird wie bei einem formidablen erotischen Unterfangen schon einmal alles vorerzählt, was dann im so genannten Hauptakt in sechs Gängen geschehen wird, und manchmal wird etwas zweimal erzählt. Dieses Nacherzählen des gerade Gesagten hat mit dem Segen der Computerei zu tun, der Erzähler arbeitet nämlich mit einem PC, und wenn er etwas verbessert, setzt er es in eckige Klammern.

Später einmal wird jemand diesen Zwischentext löschen, aber andererseits kann man das Erzählte nie mehr löschen, deshalb bleibt es im Text. Wir Leser haben dadurch den Vorteil, etwas in zwei Fassungen vorgeführt zu bekommen, wenn man so will, eine Doppelpackung Sätze um den Preis von einem. Familiengeschichten sind letztlich nichts anderes, als ein besonderer Ausblick auf die anwohnenden und umliegenden Verwandten.

Zusammengehalten werden diese sich über Jahrzehnte erstreckenden Begebenheiten von einem Erzähler mit einer nicht zusammen gewachsenen Fontanelle. Ähnlich wie der kleine Oskar in der Blechtrommel bleibt auch dieser Fontanellen-Mann mit seiner offenen Membrane ein hellhöriges Kind, das Nuancen vernimmt, die den Erwachsenen verborgen bleiben.

Da in der Saga ständig religiös gedeutet, zitiert und geflucht wird, hat sich der Erzähler auch einer fast biblischen Läuterung unterworfen. Als kleiner Junge wird er von einer schönen Frau aus einem ordinären Brand gerettet, ist seither lebenslänglich in sie verliebt und trägt als besonderes Zeichen eine so genannte Nichtnarbe.

Ständig gehen die Zeitebenen hin und her, von einem Satz auf den nächsten werden die Verwandten und ihre Besonderheiten zitiert, es scheint eine gigantische Gesprächstafel aufgetischt zu sein, an der die Verwandten mit ihren Anekdoten speisen. Es wird geheiratet, geliebt, die Bibel zitiert, ja viel gebibelt, das muss man als Leser mögen, sonst wird es mit der Zeit eng.

Aber das ist ja die Aufgabe großer Sittengemälde, dass sie dem fernen Leser einen Eindruck geben, wie es wirklich sein könnte in der israelischen Tiefebene, wenn sich die Leute aufmachen, sesshaft zu werden und dabei mit ihren alten Geschichten herum spielen. Fontanelle ist fetter Unterhaltungsstoff, gut serviert und mit charmanten Witzen garniert.

Meir Shalev, Fontanelle. Roman. A. d. Hebr. Von Ruth Achlama. [Orig. Fontanella, 2002]
Zürich: Diogenes 2004. 574 Seiten. EUR 22,80. ISBN 3-257-06458-6.

 

Helmuth Schönauer, 31-12-2004

Bibliographie

AutorIn

Meir Shalev

Buchtitel

Fontanelle

Originaltitel

Fontanella

Erscheinungsort

Zürich

Erscheinungsjahr

2004

Verlag

Diogenes

Übersetzung

Ruth Achlama

Seitenzahl

574

Preis in EUR

EUR 22,80

ISBN

3-257-06458-6

Kurzbiographie AutorIn

Meir Shalev, geb. 1948 in Nahalal, lebt in Jerusalem.