Vera Zwerger Bonell, Schattenwärts

vera zwerger bonell, schattenwärtsDie meisten Pflanzen und Lebewesen drängen, wenn möglich, ins Helle und an die Sonne. Bei den Menschen freilich führt dieses Streben oft stracks ins Dunkel, und manches Schicksal scheint eine Bewegung „schattenwärts“ zu sein.

Vera Zwerger Bonell bringt mit ihren Lebensskizzen drei Frauenschicksale ans Leselicht, ehe diese dann wohl wie alle Stoffe in den Büchern in den Schatten der Archive eintauchen werden. Die Geschichten sind der Autorin erzählt worden, es gibt kaum noch Zeitzeugen. Die Leser dürfen am Vorgang des Verlöschens von Schicksalen noch einmal teilnehmen, indem sie vielleicht ihr eigenes Leben hineinprojizieren in des Gedankenspiel mit der Vergänglichkeit.

Die drei Skizzen sind mit den Namen der Protagonistinnen überschrieben: Theres, Imma und Adele zeigen schon vom Namen her, dass sie aus der verdichteten Vergangenheit stammen. Die erinnerten Erzählungen enden mit einer Versteigerung 1928, fleißigen Kirchbesuchen in der Zeitlosigkeit nach dem Ersten Weltkrieg und in der Verdämmerung einer unauffälligen Person kurz nach der Jahrtausendwende.

Heldinnen sind drei Frauen, für die die Gesellschaft schon vom Beginn an eine dienende Rolle vorgesehen hatte. Während sich die Männer immer für Berufe, Kriege und große Geschäfte aufmachen, ist für die Frauen die Rolle am Rand des Lichtkegels vorgesehen, Tendenz „schattenwärts“.

Theres wird prompt zum „großen Steffl“ verunglimpft, als sie in der Pubertät aufschießt, wie man so sagt, und wegen ihrer Körpergröße gleich mit männlichen Zügen überworfen wird, ohne dass sie sich emanzipieren darf. Theres beginnt ihre Arbeit in einer Metzgerei, aber man gestattet ihr nicht den Umgang mit dem rohen Fleisch, sondern sie muss aufgeputzt an der Kasse sitzen und die abgepackten Fleischwaren bilanzieren.

Die Ausbildung an der Kassa dient nur zur Überbrückung für das wahre Leben als Ehefrau. Die Ehe mit Hannes geht schief, er unterliegt seiner Spielsucht und wandert nach Amerika aus. Zwar will er seine Frau in manchen Briefen noch nachkommen lassen, aber eigentlich ist es ihm recht, wenn er vom alten Kontinent, der Alten und den alten Geschäften nichts mehr hören muss. Das Anwesen wird 1928 in der Wirtschaftskrise versteigert, Theres verkommt zu einer Patientenakte in einer Anstalt, wo sie in einen Stupor verfällt. Die Angehörige Agnes reflektiert noch eine Zeitlang diese Geschichte, ehe das Leben der Theres als Fußnote der allgemeinen Geschichte verschwindet.

Das Leben von Imma verläuft ähnlich, ihre große Lebensklammer ist das Chorgestühl in der Kirche, wo sie als Kind so inbrünstig singt, dass es dem Pfarren auffällt. Am Lebensende fällt sie niemandem auf, als sie wieder in der Kirche sitzt, allein und abgehärmt, ausgehärtet vom Leben. Sie geht schon zu Lebzeiten niemandem mehr ab.

Das Besondere ihres Schattendaseins liegt vielleicht im fliegenden Wechsel der Ehe, der damals nach dem Ersten Weltkrieg allenthalben üblich ist. Als ihr Mann an der Front in Galizien fällt, übernimmt dessen Bruder Ehe und Hausstand. Aber nicht nur Imma muss sich umstellen, das ganze Land macht eine Metamorphose durch, indem es zu Italien kommt, während das zentrale Innsbruck plötzlich zum Ausland wird. Nachdem die auseinandergerissenen Familienteile an ihren neuen Standorten Wurzeln geschlagen haben, bleibt für Imma nur mehr die Kirche als stabiler Faktor, darin singt sie ihr Leben zu Ende.

In der dritten Erzählung macht Adele eine Ausbildung zur Haushaltsführung durch, sie soll fortan den Haushalt führen, auch wenn durch den Zweiten Weltkrieg alle Ordnungen umgestürzt sind.
Der italienische Faschismus wird abgelöst durch die Wehrmacht, die im Haus der Adele einquartiert ist. Vier Soldaten wohnen im Haus, dessen Männer an der Front sind. Im Verlaufe eines Gelages kommt es zu einem verhängnisvollen Foto, das die Soldaten mit Adele zeigen. Nach dem Krieg taucht plötzlich ein ehemals Einquartierter auf und will das Foto, er müsse alle Spuren löschen, denn dieser Kriegseinsatz werde jetzt nicht mehr günstig für die Karrieren der Überlebenden bewertet.

Adele findet sich nur schwer in der Nachkriegszeit zurecht, ihr Leben liegt im Schatten der Gesellschaft und besteht aus Arbeit. Einmal noch, schon im gesetzten Alter, macht sie etwas für sich, und bucht einen Fernkurs für Zeichnen. „Professionell zeichnen lernen“, heißt es im Inserat. Ihre Lebensskizze ist mit Jahreszahlen durchnummeriert, die letzte Bemerkung stammt aus 2003, als von einem stillen Tod die Rede ist.

Vera Zwerger Bonell erzählt „verlöschend“. Während die einzelnen Lebensstränge noch einmal aufgemacht werden, ducken sie sich schon an die Kante der Archivschachtel, in der sie wohl für immer im gnädigen Schoß der Literatur ruhen werden, stets bereit, für Augenblicke aus dem Schatten der Geschichte noch einmal herauszutreten.

Vera Zwerger Bonell, Schattenwärts. Lebensskizzen
München: VoG Verlag ohne Geld 2022, 139 Seiten, 13,80 €, ISBN 978-3-943810-34-9

 

Weiterführender Link:
Verlag ohne Geld: Vera Zwerger Bonell, Schattenwärts

 

Helmuth Schönauer, 25-04-2022

Bibliographie

AutorIn

Vera Zwerger Bonell

Buchtitel

Schattenwärts. Lebensskizzen

Erscheinungsort

München

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Verlag ohne Geld

Seitenzahl

139

Preis in EUR

13,80

ISBN

978-3-943810-34-9

Kurzbiographie AutorIn

Vera Zwerger Bonell, als Psychologin im Schuldienst tätig, lebt in Südtirol.