Ludwig Hartinger, Leerzeichen

ludwig hartinger, leerzeichenDer klassische Beruf eines Lektors bringt es mit sich, dass die Kunst des Lektorats oft höher eingeschätzt wird als die Texte, die gerade lektoriert werden müssen. Lektoren „alten Schlages“ sind daher die wahren Sprachmeister im Literaturbetrieb und laufen den Tagesdichtern spielend den Rang ab, was Genauigkeit, Sensibilität und Relevanz betrifft.

So ist es kein Wunder, dass das sogenannte „Leerzeichen“ in Sprache und Text bei diesen Künstlern zu einem tragenden Element wird.

Ludwig Hartinger ist ein Meister des Leerzeichens, aus seiner Tätigkeit beim Lektorieren entwächst scheinbar nebenher eine eigene Kunstform: das dichterische Tagebuch.

In der Einstimmung am Klappentext sind die drei Hauptfelder des Leerzeichens aufgezählt:

a) Leerzeichen als Taste zwischen den Worten / b) Leerzeichen als Erscheinung des Nichts oder als Zeichen des Sinnlosen c) Leerzeichen als Innenhof eines Bedeutungskomplexes.

Vom weitverbreiteten Leerzeichen als Genderpause zwischen den Wortteilen ist freilich nicht die Rede, diese Anwendung wäre nämlich das genaue Gegenteil dessen, was der Autor als sprachgestützten Sinn notiert. In der Hauptsache sind es Drei- oder Vierzeiler, die mit einem Leerstrich voneinander getrennt sind. Manchmal ist dieses Zeichen als echtes Minus zu lesen, indem das Nachfolgende vom Vorausgegangenen abgezogen werden muss, manchmal dient es auch als Markierung, an der Bindemörtel aufgetragen werden muss, um die einzelnen Gedankengänge halbwegs miteinander zu verfugen.

kahle kastanie / lesbare partituren / die stillen vögel / – / hinterm grat hellt es / laub im vereisten nachen / lichte überfuhr / – (37)

Die einzelnen Fügungen sind vielleicht Zusammenstreichungen aus einem größeren Text, alles ist abgeschliffen und zugefeilt, jetzt müssen die neuen Wortgruppen mit sich zurechtkommen, indem sie einen kompakteren Sinn erzählen, als in den Einzelteilen angedeutet war.

Wie gefährdet alles frühzeitige Deuten von Beobachtungen ist, zeigt das Beispiel der Murmel. „Langsam rollt die Murmel / um die Mulde – weiter“ (9) Das Erwartete lässt sich nicht erzwingen und rollt daher am Ziel vorbei.

An anderer Stelle ist eine Erinnerungssequenz in Stein gemeißelt und erratisch wie eine Stele in die Textlandschaft gerammt. Im Blocksatz ist von einem Ausflug ins trockene Gebirge die Rede, das den Wanderer in einen anderen Zustand führt, in das Erlebnis „anderrland“ (33). Der Ausflug endet in der Kindheit, die einst jäh unterbrochen werden musste. „drei serpentinen hang hinauf zog es / oft den buben zur einsiedelei unterm / Steinernen Meer zum fernen schauen / und ankern an den faraglioni …

Auf Wegweiser ist selbst in der Erinnerung kein Verlass, wenn sie verkehrt aufgestellt sind, das gilt für Wanderungen sowie für die Lektüre. „verdrehter wegweiser / kehren andernorts zurück / stellen eine schale / worte vor das fenster / – / in uns geteilte nacht / es ist ein riß der nährt / und es zu sagen traut / die stege sind eisglatt / –“ (44)

erwischt dich das echo / aus gestrigem schweigen / oder findet es im windbett / grad eine flüchtige bleibe / – (63)

Aus den scheinbar zufälligen Notaten ist mittlerweile längst Dichtung geworden, die Verse haben sich verfestigt und Kontakt aufgenommen zu Elementen, wie sie in altvertrauter Lyrik vorkommen.

Abgehangene Begriffe wie Barke oder Nachen greifen direkt in die Mythologie zurück und bringen die oft erzählte Geschichte von der letzten Überfahrt nach dem Tod in Erinnerung. „heut nacht ist eine barke gestrandet“ (74)

Ein paarmal werden Vögel angesprochen, die Grundfesten jeder lyrischen Dichtung. Abgeklärt heißt es, dass hinter den Schreien etwas anderes im Spiel ist: „vogelschrei, anderes alphabet“ (69)

Der Hintersinn der Namen zeigt sich auch im Gebirgsort Rauris, in dem einst Gold geschürft worden ist und jetzt verlässlich Literatur zum Vorschein gebracht wird. „Rauris – schürfort des wortes“ (79)

Mit der Einladung, an dieser hermetischen Art der Spracheverwendung teilzunehmen, enden die „Leerzeichen“:

komm in den vorhof, / passant / kein sinn atmet allein –(101)

Man merkt es den vorgestellten Kondensaten an, was alles weggelassen worden ist, wie viel taubes Wortgestein gebrochen werden musste, um auf das reine Erz der Sprache zu stoßen, das vielleicht aus „–“ besteht.

Ludwig Hartinger, Leerzeichen. Aus dem dichterischen Tagebuch 2018–2022
Salzburg: Otto Müller Verlag 2022, 104 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-3-7013-1299-3

 

Weiterführende Links:
Otto Müller Verlag: Ludwig Hartinger, Leerzeichen
Wikipedia: Ludwig Hartinger

 

Helmuth Schönauer, 01-12-2022

Bibliographie

AutorIn

Ludwig Hartinger

Buchtitel

Leerzeichen. Aus dem dichterischen Tagebuch 2018–2022

Erscheinungsort

Salzburg

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Otto Müller Verlag

Seitenzahl

104

Preis in EUR

22,00

ISBN

978-3-7013-1299-3

Kurzbiographie AutorIn

Ludwig Hartinger, geb. 1952 in Saalfelden, lebt in Saalfelden und im Karst.