Werner Schandor (Hrsg.), Kafka in Graz

Buch-CoverDie Litaraturgeschichte ist ja in der Hauptsache auch eine besondere Form der Literatur, die eine Hälfte wird als historisch relevant eingestuft und zu einem Kanon ausgebaut, die andere Hälfte gilt als unwahrscheinlich und wird aus der offiziösen Geschichtsschreibung herausgefiltert.

Wesentliche Bausteine dieser Literaturgeschichten sind Biographien von Autoren, die mehr oder weniger skurrile Lebensläufe beisteuern, dabei reicht die Schicksalspalette vom Geniekult über das soziale Außenseitertum bis hin zum standardisierten Krankheitsbild. Das Schlimmste, was ein Autor machen kann, ist ein unauffälliges Leben zu führen, denn dann fällt er mit Garantie aus der Geschichtsschreibung.

Anlässlich des Weltkulturjahres der Stadt Graz 2003 hat Werner Schandor mit einigen Kollegen versucht, diese oft trivialen Biographien ins Ungewöhnliche zu verrücken, und der Supergau an Verrücktheit ist eben die Annahme, Weltautoren hätten in Graz gelebt.

So unterschiedlichen Typen wie Samuel Beckett, Rosamunde Pilcher, Karl May oder Albert Camus wird ein gemeinsames Schicksal verpasst, nämlich in Graz zu scheitern, einen Briefverkehr zu bewerkstelligen oder einen trivialen Lebensakt in der Stadt unterzubringen. Dabei wird die jeweilige Episode mit den typischen Stilmitteln der vorgeblich gescheiterten Existenzen ausgeführt.

Vierzehn Grazer Gegenwartsautoren versetzen sich dabei gekonnt in die Lebenslage der porträtierten Autoren und unternehmen alles, um den Weltautoren den scharfen Glanz von Graz aufzupolieren. Höhepunkte sind sicher Robert Wolfs Darstellung Albert Camus als jüngster und inoffiziellster Stadtschreiber von Graz und Fritz Krenns Brief an die Verlobte im Stile Kafkas.

Werner Schandor schließlich lässt Musil in Graz stranden und den Metamorphemat erfinden. Mit diesem Automaten, der perfekt die passenden Morpheme zu jeder Dichtersituation findet, lassen sich die weltbewegendsten Dichtungen in Sekundenschnelle generieren. Vermutlich geht die Arbeit der Grazer Gruppe ?Forum Stadtpark? auf diesen Automaten zurück. Bei Peter Handke dürfte es
ohnehin gewiss sein, dass er seine Werke mit einem Matamorphematen geschrieben hat, wie könnte sonst diese Fülle von Poesie bei zunehmender Reduktion der Realität jährlich eine Steigerung erfahren?

Kafka in Graz ist eine wunderbare Analyse des Literaturbetriebes unter starker Einbindung des Möglichkeitssinns. Denn mit ein bisschen Glück oder einer
wacheren Literaturwissenschaft hätte die Literatur so ausfallen können, wie sie Werner Schandor und seine Truppe für uns erdichtet haben.

Werner Schandor (Hrsg.): Kafka in Graz und andere Episoden aus der (un)heimlichen Literaturhauptstadt.
Graz: Steirische Verlagsgesellschaft 2003. ( = Edition Literatur ). 136 Seiten, 15,00 €, ISBN 3-85489-085-0

 

Helmuth Schönauer, 07-02-2005

Bibliographie

AutorIn

Werner Schandor (Hrsg.)

Buchtitel

Kafka in Graz und andere Episoden aus der (un)heimlichen Literaturhauptstadt

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2003

Verlag

Steirische Verlagsgesellschaft

Herausgeber

Werner Schandor

Seitenzahl

136

Preis in EUR

15,00

ISBN

3-85489-085-0

Kurzbiographie AutorIn

Werner Schandor, geb. 1967 in Fürstenfeld, lebt in Graz.

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