georgi gospodinov, zeitzufluchtWenn es sich von dieser Welt schon nicht horizontal-geographisch fliehen lässt, vielleicht sollte man es vertikal-chronologisch versuchen. Warum nicht in die Zeit selbst fliehen, statt aus ihr heraus?

Georgi Gospodinov erzählt in seinem über den Kontinent gespannten Roman „Zeitzuflucht“ von der Magie der Vergangenheit als der eigentlichen Zukunft. Es ist wahrscheinlich alles nur eine Frage der Richtung, „wer sich in der Vergangenheit umdreht, sieht die Zukunft“.

gerd busse, typisch belgischWenn die EU sich Brüssel als Hauptstadt unter den Nagel gerissen und ihre Nationen als austauschbares Ganzes eingebracht hat, ist dann noch etwas übrig für „typisch belgisch“?

Und wenn die Globalisierung alles verschiebbar oder universal-kompatibel gemacht hat, muss dann nicht jedes Land erst recht aufstehen, um sich mit ein paar typischen Dingen eine Restidentität zu verschaffen, ohne gleich in den Nationalismus überzuschwappen?

peter paul wiplinger, schachteltexte3Damit die Literatur aus dem Leben heraustreten und sich Luft verschaffen kann, braucht es zwei Beobachtungsschlitze: Durch den einen blickt man auf den anstehenden Tag, durch den anderen auf das verflossene Leben.

Peter Paul Wiplinger führt die beiden Suchbewegungen mit seinen Schachteltexten elegant und eindringlich zusammen. Seit fünfzehn Jahren arbeitet er an diesem einmaligen Dokument, wobei auf ausgeklappte und ausgerissene Verpackungsteile mit der Füllfeder Texte komponiert werden. Ein Auge blickt auf den aktuellen Zustand des schreibenden Ichs und das andere setzt sich den historischen Gezeiten von Kindheit bis zur Reife aus.

selma mahlknecht, berg and breakfastTourismus ist wie Sex: Wenn du anfängst, darüber nachzudenken, ist er kaputt.  Durch das Format Essay werden derlei Gefährdungen minimiert. Im Essay darf nämlich auf gesicherten Fakten subjektiv nachgedacht werden.

Selma Mahlknecht verbindet im Titel ihres Essays das Sehnsuchtselement Berg mit dem handfesten Frühstück, das Hardcore eingenommen wird. Im Tourismus geht es nämlich immer um Bilder, die als luftige Vorstellung vorausreisen, ehe der Körper handfest hinterher reist, um sie zum Platzen zu bringen – wie die sprichwörtliche Seifenblase.

alois hotschnig, der silberfuchs meiner mutterGermanisten kümmern sich um die Autoren, Rezensenten um die Leser. Bei einem Meisterwerk treffen beide friedlich aufeinander und besingen das Kunststück von vorne und hinten.

Alois Hotschnig ist ein versöhnender Dichter, der die oft seltsam schrägen Ansprüche der Germanisten mit den geraden Bedürfnissen der Leserschaft zusammenbringt. Seine solitären Bücher zeigen, dass sich ausgehungerte Lesende zum Buch meist noch etwas hinzu wünschen, ehe sie mit der Lektüre beginnen.

christine hochgerner, damals ist nicht mehrNiederschmetternd sind immer jene Romane, die beinhart den Verlauf von „Schicksal“ erzählen. Für die Leser besteht die Belohnung schließlich in der Ermunterung, dass der Sinn des Lebens im Aushalten besteht. Für dieses kleine Motivationslicht opfern literarische Heldinnen schließlich ihr Leben.

Christine Hochgerner zeigt in ihrem Roman „Damals ist nicht mehr“, wie die neunzigjährige Hertha mitten in der Pandemie noch einmal aktiv wird. Sie muss es nämlich irgendwie hinkriegen, dass man ihr Haus entkernt und sie im Pensionistenheim erhobenen Hauptes einziehen kann.

egyd gstättner, leopold der letzteKann man aus dem Jenseits heraus einen Roman schreiben? ‒ Diese Frage beschäftigt das Publikum schon seit Jahrhunderten. Die Sache ist so fragwürdig heiß, dass man nicht von ihr ablassen kann, ehe der Roman fertig gelesen ist.

Egyd Gstättner operiert mit der These, dass jeder Autor stirbt, wenn er aus seinem Text heraussteigt. Nach der Niederschrift löst sich daraus sein Geist, dieser segelt über dem Schreibtisch und kann so mitverfolgen, wie er für tot erklärt und sein Werk zu einem Nachlass wird.

castle freeman, herren der lage„Wir leben hier. In diesem Tal. Wir sind ebenfalls keine Idioten. Und wir langweilen uns nicht. ‒ Manchmal vielleicht ein kleines bisschen.“ (120) Diese Beschreibung eines entlegenen Landstrichs von Amerika ist vielleicht das genaue Gegenteil von Tirol und heizt dadurch unsere Sehnsucht an.

Castle Freeman zeigt in seiner kleinen „Vermont-Saga“, wie die Idylle unversehrt bleibt, weil sich die Menschen weigern, das Schlimme zur Kenntnis zu nehmen. In einem abgelegenen Tal in Vermont sind zumindest die Rechtsvertreter, der alte und der aktive Sheriff, „Herren der Lage“.

maddalena fingerle, mutterspracheZwei Südtiroler Autorinnen mischen die Südtiroler Literaturszene auf wie bislang vielleicht n. c. kaser mit seiner berüchtigten Brixner Rede 1969, als er über die verlogenen Literaturbetreiber und andere Sprachwurschtl in Südtirol herzieht.

Bereits 2021 erregt der auf italienisch geschriebene Roman „Lingua madre“ der in Bozen geborenen Maddalena Fingerle größte Aufmerksamkeit, wird zu einem Bestseller, und seine Autorin reüssiert in allen erdenklichen italienischen Preisklassen.Jetzt „vollendet“ die in Pflersch geborene Maria E. Brunner dieses elementare Werk über die Südtiroler Identität, indem sie es ins Deutsche übersetzt. Dadurch wird „Muttersprache“ ein richtig politischer und patriotischer Roman, weil sich auch die mono-sprachlichen Deutschen damit befassen dürfen.

ruth bernardi, totgeschwiegene lebenDas ist der Traum jeder Sprachforscherin: Wenn das Gebiet klein genug ist, und die Sprache überschaubar groß, kann alles rund um diese Sprache von einer einzigen Person entdeckt, gepflegt und für die Zukunft fit gemacht werden.

Rut Bernardi hat die ladinische Sprache rund ums Grödnertal mit Lexika, Essays, Tondokumenten und Romanen ins Bewusstsein der Zeitgenossen gerückt. In ihrer jüngsten Arbeit lässt sie „totgeschwiegene Leben“ aus diesem Rayon wieder auferstehen und gibt ihnen zum ersten Mal eine Sprache.