Nationaler Bildungsbericht 2012: Lesenlernen und Leseerziehung, Teil 3

Wieso hinken die Leseleistungen österreichischer Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich so weit hinter jenen von Kindern und Jugendlichen aus Finnland, Kanada, Schweden u.a. Ländern her? Liegen die Ursachen in unserem Bildungssystem und wenn ja, was lässt sich dagegen unternehmen.

Antwort darauf versucht der Nationale Bildungsbericht 2012 zu geben, der nun bereits zum zweiten Mal nach 2009 den Zustand des österreichischen Bildungswesens näher unter die Lupe nimmt. Der zweite Band dieses Bildungsberichts reflektiert anhand von zehn Beiträgen österreichischer Bildungswissenschaftler bestimmte Themenkomplexe aus dem österreichischen Schulwesen, wobei auch das Thema „Lesen in der Schule“ vertreten ist.

Leseförderung im österreichischen Schulsystem

In Österreich bleibt es den Lehrerausbildungseinrichtungen weitgehend selbst überlassen, ob sie Kurse zur Leseentwicklung und zu den Grundlagen des Lesens anbieten wollen oder nicht. Die AutorInnen haben extra für Beitrag Lehrveranstaltungen für Volksschullehrer an den Pädagogischen Hochschulen untersucht. Dabei hat sich gezeigt, dass von den 295 Pflichtkursen (Modulen) insgesamt 59 Kurse (20%) in irgendeiner Form das Lesen in ihrer Beschreibung hatten, aber nur 13 Kurse (4%) konnten, auch bei großzügiger Auslegung, den Grundlagen des Lesens bzw. Lesenlernens zugeordnet werden. Bei den meisten Kursen standen die neue Rechtschreibung, Lesemotivation oder der Zweitspracherwerb im Mittelpunkt.

Das Grundlagenwissen der österreichischen LehrerInnen für das Lesenlernen scheint aufgrund dieses Befundes alles andere als gesichert zu sein, ohne das jedoch ein fundierter Leseunterricht kaum gewährleistet werden kann. Die notwendigen Hilfestellungen für SchülerInnen mit Problemen beim Lesenlernen bleiben daher entweder aus oder entbehren der lesepädagogischen Kompetenz. (43)

Mangelnde diagnostische Kompetenz der LehrerInnen

Von den 295 an den Pädagogischen Hochschulen unterrichteten Kursen befassten sich nur sechs explizit mit dem Erkennen von Kindern mit Leseproblemen. Die in einer Studie (Schmidt und Schabmann 2010) nachgewiesene geringe Treffsicherheit von LehrerInnen, wenn es um Leseschwierigkeiten bei SchülerInnen geht, ist vor diesem Hintergrund nicht ganz unverständlich.

Eine Studie unterstrich die Bedeutung eines gut strukturierten Leseunterrichts und zeigte, dass LehrerInnen, die das Lesebuch regelmäßig verwendeten und vollständig mit den Kindern durcharbeiteten, erfolgreicher bei der Vermittlung von Lesefähigkeit waren, als LehrerInnen, die das Lesebuch so gut wie nie verwendeten.

Zu Beginn des Erstleseunterricht zeigt sich aus lesedidaktischer Sicht eine stärker lautorientierte Leselehrmethode (synthetische Methode) einer wortorientierten „ganzheitlichen“ Methode als klar überlegen, ganz besonders in Hinblick auf die Förderung schwacher LeserInnen.

Obwohl in der Forschung schon längst bekannt ist, welche didaktische Methoden als aussichtsreich und welche als problematisch zu betrachten sind, finden sich im schulischen Unterricht immer noch überraschend viele der ungeeigneten Methoden. Der österreichische Lehrplan selbst gibt nur die grundsätzliche Ziele vor, die es zu erreichen gilt, äußert sich hingegen nicht über die zu verwendenden Methoden. Außerdem werden die Erfolge des Erstleseunterrichts so gut wie nicht evaluiert.

Der regelmäßige Einsatz des Lesebuches, das mit mit den Kindern vollständig durchgearbeitetet wird, hat sich bei der Vermittlung von Lesefähigkeit als überaus Erfolgreich erwiesen. Foto: Markt-Huter

 

Eine ausdrückliche und strukturierte Förderung des Leseverständnisses besitzt in Österreich im Schulunterricht keine Tradition, was vor allem auf Schwächen in der Lehreraus- und -weiterbildung zurückzuführen ist.

Österreichische Schulen setzen relativ stark auf (informelle) schulinterne Initiativen wie z.B. Buchklubs oder Lesewettbewerbe, die aber vornehmlich die Motivation der Schüler zum Lesen steigern wollen. Relativ wenige Schulen hingegen verfolgen strukturierte Initiativen, die den formellen Leseunterricht direkt berühren.

Schulen in EU-Ländern mit signifikant besseren Ergebnissen als Österreich setzen hingegen mehr auf eine Koordination des Leseunterrichts sowie schuleigene Leselehrpläne.

Mit dem Grundsatzerlass zum Unterrichtsprinzip Leseerziehung  aus dem 1999 wurde versucht, der Bedeutung des Lesens für alle Fächer gerecht zu werden. Einer der Hauptgründe, weshalb dieses Vorhaben in den Schulen bislang jedoch kaum umgesetzt werden konnte, dürfte sein, dass Lesedidaktik nicht allgemein als Teil der Lehrerausbildung Berücksichtigung findet.

Forderungen für den allgemeinen Leseunterricht und für die Unterstützung von Kindern mit Leseproblemen

Verbesserung der Lehrerausbildung

Lehrpersonen müssen über eine Reihe von Lesedidaktischen Kompetenzen und Kenntnisse verfügen:

  • wie genau bildet Schrift gesprochene Sprache ab
  • linguistisch fundiertes Wissen über die Prinzipien der deutschen Sprache
  • lesepsychologische Grundproblematik des lautierenden Lesens
  • Lesen muss quer über alle Fächer hinweg geeignet unterrichtet und gefördert werden
  • Leseunterricht muss Kindern Möglichkeiten bieten, einen umfassenden Wortschatz aufzubauen (wichtig für die flüssige und automatisierte Worterkennung)

Für die Sekundarstufe werden die technischen Lesefertigkeiten bei den Kindern vorausgesetzt und sind nicht mehr Teil des Unterrichts. Die Umsetzung des „Unterrichtsprinzips Lesen“ für alle Fächer scheint nicht hinreichend bekannt zu sein, wobei den meisten Lehrpersonen auch die notwendigen didaktischen Grundlagen fehlen. Dabei würden sich Lesestrategien besonders gut auch anhand von Texten im Fachunterricht wie z.B. im Rahmen des Biologie- oder Physikunterrichts trainieren lassen.

Die Lesemotivation durch Veranstaltungen und Leseaktionen zu stärken, gelingt meist nur bei Schülerinnen und Schülern deren Lesekompetenz bereits stärker ausgebildet ist. Foto: Markt-Huter

 

Derzeit wird der Schwerpunkt der Lesedidaktikausbildung auf die Lesemotivation gelegt, mit der aber nur die geeigneten Rahmenbedingungen für einen erfolgreichen Leseerwerb geschaffen werden können. Hingegen kommt die Vermittlung von Strategien und Fertigkeiten zu kurz, die helfen sollen, Texten einen Sinn zu entnehmen.

Nach Meinung der Autorinnen und Autoren müsste in der Lehrerausbildung ein Mindestmaß für den Bereich Lesedidaktik und Lesepädagogik vorgesehen sein. Dabei sollten linguistische und entwicklungspsychologische Grundlagen, Modelle und Erkenntnisse der kognitiven Lesepsychologie, Modelle und Methoden der Lesedidaktik ebenso vermittelt werden wie das Erkennen von Kindern mit Leseproblemen.

Themenbereiche wie Lesedefizite/Legasthenie sind an einigen PHs nicht Gegenstand der Grundlagenausbildung, sondern werden erst im Rahmen der Lehrerfortbildung angeboten, obwohl es durchschnittlich 1-2 Kinder mit Legasthenie und vier mit Leseschwäche pro Klasse gibt.

Erkennen und Fördern von leseschwachen Schülern

Rechtzeitiges und sicheres Erkennen von Schwächen beim Lesen ist ebenso wichtig, wie eine maßgeschneiderte Förderung der Kinder über die gesamte Schulzeit hinweg. Im Volksschulbereich zeigen sich große Unterschiede zwischen den Bundesländern, wenn es um die Erkennung und Umsetzung von Fördermaßnahmen geht. Im Sekundarbereich lässt sich überhaupt keine abgestimmte Vorgangsweise erkennen, wie mit Leseschwäche umgegangen werden soll. Eine Förderung leseschwacher Kinder hängt somit allein von der jeweiligen Schule bzw. der Lehrperson ab.

Um SchülerInnen mit Förderbedarf möglichst frühzeitig erkennen zu können, würde es sinnvoll erscheinen, das Salzburger Lesescreenings vor die 3. Schulstufe zu verlegen. Damit ließe sich die Volksschulzeit weit besser für Fördermaßnahmen nutzen.

Was fehlt, sind auch die innerschulischen Maßnahmen und Mechanismen, um Lehrpersonen bei der Auswahl von geeigneten wissenschaftlich fundierten Maßnahmen zur Lese- und Rechtschreibförderung zu unterstützen. (51)

Dabei sind die Befunde recht eindeutig. Aus 16 Studien zur Leseförderung ergibt sich, dass symptomspezifische Lesetrainings eine mittelhohe Effektstärke bieten, während Wahrnehmungs- und Funktionstrainings, ohne Fokus auf das Lesen, keine positiven Auswirkungen zeigen. Bei gemischte Übungen stellen sich erst bei längerer Durchführungsdauer positive Effekte ein. Daraus ergibt sich der sich der klare Schluss: Wahrnehmungs- und Funktionsübungen lohnen sich nicht.

Mangelnde Kompetenzen in der Unterrichtssprache Deutsch

Mangelnde Sprachkompetenzen stellen einen wesentlichen Risikofaktor für Probleme im Leseerwerb dar. Dies trifft sowohl auf Kinder mit einer anderen Muttersprache als auch auf Kinder mit einer verzögerten oder gestörten Sprachentwicklung zu. Seit einigen Jahren wird in Österreich mit allen Fünfjährigen verpflichtend eine Sprachstandserhebung durchgeführt. Diese hilft zu erkennen, ob die Kompetenzen in der Unterrichtssprache Deutsch ausreichend entwickelt sind oder ob ein Förderbedarf besteht.

Vielen LehrerInnen sind die bundesweit übermittelten Tipps und Unterlagen unbekannt, mit denen sich die sprachliche Entwicklung von Kindern zu Beginn der Schulpflicht feststellen lässt. Auch die Sprachförderung im Elternbereich sollte so früh wie möglich beginnen. Leider genügen nur wenige Programme zur Sprachförderung den Mindestansprüchen. Wirksame Sprachförderprogramme sollten vor allem längerfristig angelegt sein, d.h. sowohl im Kindergarten als auch in der Volksschule und wenn nötig, darüber hinaus Einsatz finden.

Konsequent und gut durchgeführte Lesepartnerschaften helfen, die Leseleistungen eines Großteils der SchülerInnen deutlich zu verbessern. Bild: LesepartnerInnen

 

Lesepartnerschaften

Der Buchklub der Jugend zum Thema Lesepartnerschaft in seinem Programm „Family Literacy“ gute Anleitungen. Als wichtige Aspekte für die Einrichtung geeigneter Lesepartnerschaften werden genannt:

  • eine gute Beratung bei der Auswahl geeigneter Literatur
  • die Schaffung geeigneter zeitlicher Rahmenbedingungen
  • eine systematische Begleitung der Lesepartnerschaften durch Expertinnen und Experten.

Der gewählte Lesestoff muss nah an den Interessen und der Lesekompetenz der Schülerin bzw. des Schülers liegen. Lesepartnerschaften haben nicht die Aufgabe, den aktuellen Klassenlesestoff wiederzugeben und somit die Funktion von Nachhilfestunden zu übernehmen. Auf diese Weise lässt sich nur selten Lesefreude erwecken. Auch sollte zwar täglich aber nicht länger als 15-20 Minuten gelesen werden, um vor allem leseschwache Kinder nicht zu überfordern.

Es hat sich gezeigt, dass konsequent und gut durchgeführte Lesepartnerschaften helfen, die Leseleistungen eines Großteils der SchülerInnen deutlich zu verbessern. Bei jenen, deren Leistungen gleich bleiben, liegen meist tiefere Probleme vor, die ihm Rahmen einer gezielten Förderung behandelt werden müssen.

Zusammenfassung der wichtigsten Forderungen:

  • Die Verbesserung der Lesekompetenzen und der Lesekultur erfordert eine Professionalisierung der Lehrerschaft
  • Lehrpersonen brauchen eine umfassende Ausbildung in lesepsychologischen und –didaktischen Grundlagen (Entwicklung basaler Lesekompetenzen und Vermittlung von Lesestrategien)
  • Förderungsmaßnahmen vom Kindergarten bis in die Sekundarstufe
  • Family-Literacy-Angebote für Kinder bildungsferner Milieus
  • Leseförderung in allen Fächern, d.h. Ausbildung aller LehrerInnen in Leseförderung
  • Maßnahmen zur rechtzeitigen Erkennung von SchülerInnen mit Leseschwierigkeiten
  • über die ganze Schulzeit ausgelegt Förderungsmaßnahmen im Unterricht
  • anregendes Lesematerial in den Schulbibliotheken und anregende Lesesituationen
  • klares Bekenntnis des Bildungssystems, die Lesekultur zu verändern

 

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Weiterführende Links:
 

Nationaler Bildungsbericht 2012 mit besonderer Berücksichtigung der Sprach- und Leseförderung

Nationaler Bildungsbericht 2012, Bd. 2: Lesekompetenz, Leseunterricht und Leseförderung im österreichischen Schulsystem. Analysen zur pädagogischen Förderung der Lesekompetenz

Education Group - Bildungs TV: Dr. Karin Landerl, Lesekompetenz, Leseunterricht & Leseförderung

Grundsatzerlass Leseerziehung

Prof. Dr. Anita Schilcher: "Leseförderung in der Grundschule - was man wissen sollte!" Neuere Forschungsergebnisse und Konsequenzen (Fortbildung am 6.6. 2012 in Innsbruck)

Margit Böck, Förderung der Lesemotivation. Schulische Leseförderung im Anschluss an PISA 2000/2003 ; Neue Ansätze für eine Aufgabe im Spannungsfeld der Anforderungen der Schule und den Erwartungen der SchülerInnen

Margit Böck, Gender & Lesen. Geschlechtersensible Leseförderung ; Daten, Hintergründe und Förderungsansätze

Margit Böck, Praxismappe Lesen, Unterrichtsbeispiele für die Förderung der Lesemotivation von Mädchen und Buben in der 5. und 6. Schulstufe

Ein Curriculum zur Leseförderung von Kindern und Jugendlichen (nicht nur) aus den sog. „Risikogruppen “ Prof. Dr. Christine Garbe
ProLesen-Transfer: „Lesen in allen Fächern“

Buchklub: Lesepartnerinnen

Simone Breit/Petra Schneider, Sprachstandsfeststellung im Kindergarten als Grundlage für differenzierte sprachliche Förderung

Handbuch Sprachstandsfeststellungsbogen

Sprachstandsfeststellungsbogen

Handbuch Sprachkompetenz Boobachtungsbogen

Sprachkompetenzbeobachtungsbogen

Fried, L. (2005). Expertise zu Sprachstandserhebung en für
Kindergartenkinder und Schulanfänger

 

>> Nationaler Bildungsbericht 2012: Lesenlernen und Leseerziehung, Teil 1
>> Nationaler Bildungsbericht 2012: Lesenlernen und Leseerziehung, Teil 2

 

Andreas Markt-Huter, 04-02-2014

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