friedrich hahn, Jegliche Personen, jegliche Ähnlichkeiten und jegliche HandlungIn den meisten Romanen werden kunstvoll Karrieren, Biographien oder Geschichten für das beruhigte Einschlafen konzipiert, damit sich die Leserschaft an Traumbildern hinaustasten kann aus dem Tagwerk des Alltags.

Friedrich Hahn könnte man als Meister der Dekonstruktion von Biographien bezeichnen, sein erzählerisches Augenmerk gilt den Sprüngen, die verlässlich die Karrieren seiner Protagonisten heimsuchen, sein Schwerpunkt ist so etwas wie das Leben im Ausgedinge. „Das ganze Dorf ist im Modus des Ausgedinges“, (105) heißt es über das Waldviertel, wo die ehemals Ausgewanderten zum Sterben heimkommen oder zum Verkauf ihrer Häuser an die städtischen Makler.

alexei salnikow, petrow hat fieberUnschuldig lesen war einmal, heutzutage gilt es, zuerst die politische Haltung abzutasten, ehe man sich an ein Buch wagen darf. Besonders heikel sind momentan Romane, die irgendwas mit dem „zweiten putinschen Krieg“ (2022) zu tun haben.

Alexei Salnikows Roman „Petrow hat Fieber“ aus dem Jahr 2016 spielt im Russland der Vorkriegszeit, handelt vom Delirium der postsowjetischen Gesellschaft in den Nullerjahren und ist als russischer Text stark ausgrenzungsgefährdet. Die Sache wird ein wenig erleichtert, da der Autor zwar in Jekaterinburg gewirkt hat und dort auch den Roman spielen lässt, aber selbst im heutigen Estland geboren ist, was ihm euro-baltische Sympathien entgegenbringt.

benedikt widmaier, politische bildung nach auschwitz„Wie kein anderes historisches Ereignis stehen die nationalsozialistischen Verbrechen für die basale Erschütterung des Vertrauens in die zivilisatorische Selbstbegrenzung der modernen Gesellschaft. Auschwitz zerbrach die fortschrittsoptimistische Grundfigur der Aufklärung, weil sich mit der industriell organisierten Vernichtung von Menschen, dem zerstörerischen Antisemitismus und der Pervertierung des Nationalstaatsgedankens das erklärte Ziel der Aufklärung in ihr Gegenteil verkehrt hatte.“ (S. 17)

Die Schrecken der NS-Diktatur und des Holocaust bilden die zentrale Zäsur des 20. Jahrhunderts, die auch für die politische Bildung im schulischen Unterricht, vor dem Hintergrund veränderter Lebens- und Erfahrungswelten eine fundamentale pädagogische Herausforderung darstellt.

jörg reinhardt, zeitlupenwegeWenn etwas für wichtig gehalten wird und eine Szene für die Wahrheitsfindung enträtselt werden soll, ist die Zeitlupe seit den Anfängen des Films eine gute Methode, der Erkenntnis auf die Sprünge zu helfen. Das gilt für forensische Abläufe oder Schadensmeldungen genauso wie für Lyrik, wo ja auch der pure Ablauf der Zeit in Poesie verwandelt werden kann, indem man eine Story verlangsamt oder eine Sequenz herunterfährt bis nahe an ein Standbild.

Jörg Reinhardt umschreibt das programmatische Gedicht zu diesem Vorgang mit „Zeitlupenwege“ (157), am Cover ist dieser Begriff zudem zu einem Dreizeiler aufgerüstet: Zeit Lupen Wege. In diesem Begriffsgedicht laufen Chronik, Dimension und Distanz zu einer Kürzest-Theorie zusammen, die einen Text vom Ersteintrag als Notiz an bis hin zu einem epischen Langgedicht betreut.

alexander peer, gin zu endeJe nach Gemüt, Stimmung oder Zustand der intellektuellen Datenbank bringt Lyrik bei der Rezeption eine Menge Sichtweisen ins Spiel. Die zwei wichtigsten sind immer: Schlüsselwörter und Konzeption.

Damit ist gemeint, dass es vor allem Reizbegriffe und Schlüsselwörter sind, die das Individuum zum Erklingen und Erschüttern bringen, wenn es einen lyrischen Text liest. Die zweite Komponente ist die sogenannte Konzeption, damit ist jenes Programm gemeint, auf das sich die urhebende Person stützt. Die steilste Form der Lyrik ist demnach die Konzeptlyrik. Dabei wird zwar ein Programm beschrieben, die Ausführung wird aber den Anwendern überlassen.

ronald pohl, der vaghalsDas Konzept des Ritter-Verlages besteht darin, jedes Buch zu einem eigenen Genre auszubauen. Die einzelnen Publikationen tragen folglich nicht nur einen unverwechselbaren Titel, sondern auch eine einmalige Gattungsbezeichnung am Cover. Wenn dabei dennoch handelsübliche Begriffe wie „Erzählungen“ auftauchen, so bedeutet das auf jeden Fall, dass diese Erzählungen nichts mit den kursierenden Texten dieses Genres zu tun haben.

Ronald Pohl ist Exponent einer Erzählform, bei der an der Textoberfläche scheinbar alles wie immer abläuft, sobald man aber an die Tiefenstruktur herangeht, ist nichts mehr so, wie es noch geschienen hat. Zwar gibt es Hauptpersonen, einen novellenähnlichen Plot und eine nachvollziehbare Geographie. In Wirklichkeit aber hängt nichts mit jedem zusammen, sodass sich selbst so antrainierte Elemente wie eine lineare Handlung jäh ins Gegenteil verkehren können und unter die Patina eines Stilllebens schlüpfen.

martinf troger, ein einzelzimmer bitteSammlungen mit Geschichten haben ihre Initialzündung entweder als Schüttgut, als Chronik oder als thematische Verklumpung.

Martin Troger lässt sich mit seinen „Paargeschichten“ von allen drei Möglichkeiten anregen. Seine Sammlung „Ein Einzelzimmer bitte“ ist vorerst einem Wettbewerb des Projekts ZOOM ED geschuldet, darin werden Erstpublikationen von Literaturschaffenden aus Südtirol und den angrenzenden Gebieten gefördert. Für das Projekt hat der Autor 21 Geschichten aus der persönlichen Schütte ausgewählt und klug aufgefädelt. Einmal auf die Spur gesetzt, entdeckt man als Lesender tatsächlich die inneren Zusammenhänge zwischen den Geschichten, die vage auf den Begriff „Paar“ kalibriert sind.

reinhard margreiter, wohnen im zeitalter der mobilitätDie Wohnung ist nach dem Blastoderm und der Kleidung unsere dritte Haut, in der wir leben. Die vierte wäre das politische Gemeinwesen. So ungefähr ist für das Ende des letzten Jahrhunderts das Curriculum der Erwachsenenbildung aufgebaut. Anhand der vier Häute können damit alle Probleme des adulten Menschen besprochen und fallweise gelöst werden.

Das Wohnen an sich ist zwar seit Jahrhunderten jenes Thema, das dem Denken und Philosophieren eine weite Bühne bietet, man denke nur an den berühmten Heideggersatz „Die Sprache ist das Haus des Seins“. Im gegenwärtigen Diskurs freilich handelt das Wohnen vom Schaffen von Wohnraum, der Materialisation von Kapital und einem vorläufigen Endzustand einer Gesellschaft, die in den Segmenten Tourismus und Migration ständig unterwegs ist.

alexander marguier, die wokeness-illussion„Denn kein geringerer als der wirkmächtige US-Politologe Francis Fukuyama ließ in seinem schon 2018 erschienenen Buch mit dem Titel »Identität« keinen Zweifel daran, dass der kulturelle Fokus der Identitätspolitik von ernsthaften Überlegungen darüber abgelenkt habe, »wie der dreißig Jahre währende Trend in den meisten liberalen Demokratien zu größerer sozioökonomischer Ungleichheit umgekehrt werden kann«.“ (S. 8)

Die Aufsatzsammlung „Die Wokeness-Illusion“ setzt sich mit den verschiedenen gesellschaftspolitischen Diskussionen der Gegenwart rund um die Themen struktureller Rassismus, Geschlechtersystem, Neoliberalismus, politisch korrekter Konsum, woke Sprache und Kultur, Identitätspolitik und kulturelle Aneignung auseinander.

elisabeth lexer, fluchttiereDer Begriff Fluchttiere sagt den Tierliebhabern etwas völlig anderes als den psychologischen Analytikern, die sich gerne strategisch verlesen und von „Fluch-Tieren“ sprechen.

Elisabeth Lexer erzählt freilich Eindeutiges: Die Tiere sind das Um und Auf, Lebensinhalt und Skala zum Messen von Veränderung und schließlich Katalysatoren in den Beziehungen des knapp bemessenen Personals. Im Unterschied zur Hauptperson Elsa, für die Tiere das Sinnbild des Lebens sind, verliert der an Tieren weniger interessierte Leser leicht den Überblick über die Herde an mehr oder weniger gezähmten Vierbeinern und registriert letztlich bloß die ständige Anwesenheit von Hunden, Katzen und Pferden.