henry hitchings, die welt in seitenOb man ein Leser mit Tiefgang ist, lässt sich durch eine einzige Frage beantworten: Hast du neben der Bibliothek eine Buchhandlung, in der du persönlich angesprochen wirst?

Jeder anerkannte Leser wird auf Anhieb seine Lieblingsbuchhandlung beschreiben können, voller Anekdoten und kauzigem Inventar. Der Unterschied zu seiner Lieblingsbibliothek besteht vielleicht in der Ordnung der Bücher. Nach einem Diktum von Virginia Woolf „gibt es gebrauchte Bücher, die wilde Bücher sind, heimaltlose Bücher. Sie bilden gewaltige Herden mit buntem Gefieder und besitzen einen Charme, der den domestizierten Bibliotheksbänden fehlt.“ (17)

gerald szyszkowitz, marloweEine gute Novelle erfreut nicht nur die Leserschaft, sondern kann auch für den Autor ein Eigengeschenk sein, das sein schreibendes Leben belohnt.

Gerald Szyszkowitz hat einst Anglistik und Shakespeare-istik studiert und leidet seither daran, dass man seine These nicht entsprechend würdigt, wonach die Shakespeare-Stücke von Marlowe stammen. In der Novelle Marlowe und die Geliebte von Lope de Vega packt er alle literarischen Begebenheiten, die rund um Marlowe zwischen den Jahren 1564 und 1655 eruierbar sind, zuerst in eine Chronik und anschließend in eine Novelle.

maxi obwexer, europas längster sommerWährend man im Roman die Helden zur Kenntnis nimmt und sich mit ihnen arrangiert oder nicht, ist man als Leser eines Romanessays immer wieder versucht, einzugreifen und um eine Entgegnung zu bitten. Das freilich ist die hohe Leistung eines Essays, man ist ihm während der Lektüre gnadenlos ausgeliefert und kann erst hintennach reagieren, wenn man schon alles gelesen hat.

Maxi Obexer unterläuft die unsäglich zersplitterte Diskussion in diversen Medien mit dem Kunstgriff des Essays. Eine Ich-Erzählerin reist aus ihrer Kindheits-Heimat Südtirol nach Berlin, wo sie die Erwachsenen-Heimat aufgeschlagen hat und jetzt in einem Festakt eingebürgert werden wird.

markus köhle_jammern auf hohem niveauDie Sprache ist durchaus menschlich wie die Menschen, die sie verwenden, deshalb trinkt sie selber gerne was und springt den Angetrunkenen leicht und im 3-D-Format von der Zunge. Auch ihr Niveau ist dabei höchst beachtlich und erhöht, sitzen die Sprach-Helden doch meist etwas abgehoben von der Umwelt auf Barhockern.

Markus Köhle, der Meister von Poetryslam und User dynamischer Satzbögen, verschafft mit seinem Barhocker-Oratorium diesen täglich in den Bars anströmenden Erkenntnissen, Schicksalen und Planungen ein Forum, von dem aus die Sätze in den Weltraum oder zumindest an die Bardecke geschossen werden können.

bernhard hüttenegger, beichte eines alten narrenBei autobiographischen Texten stellt sich dem Leser immer die brisante Frage: Wie zufrieden und bescheiden ist der Autor trotz seines gewaltigen Lebens geblieben? Denn machen wir uns nichts vor, jedes Leben wird überdimensioniert wichtig, sobald es aufgeschrieben wird.

Bernhard Hüttenegger rüstet sich klug gegen den Größenwahn beim Rückblick auf das Leben. Das fängt schon damit an, dass er die Romanform wählt, worin bekanntlich alles augenzwinkernd-verschrägt dargestellt ist, und setzt sich fort mit der die Figur des alten Narren, der die Dinge zuerst in Echtzeit zurechtklopft und später als Chronik.

gregoire delacourt, die dichter der familieÜblicherweise muss ein Dichter von Kindesbeinen an gegen eine feindliche Umwelt kämpfen und alle seriösen Berufsangebote ausschlagen, damit er sein Leben der Literatur opfern kann. werden kann.

Grégoire Delacourt zeigt ironisch bitter, wohin es führt, wenn ein zarter Knabe zum „Dichter der Familie“ ausgerufen wird. Der Ich-Erzähler lässt schon mit sieben, kaum, dass er das Schreibgerät halten kann, die ersten Reime heraus.

tomas venclova, der magnetische nordenÄhnlich dem politischen Adel, dessen Hauptaufgabe darin besteht, untereinander zu heiraten und geheimnisvolle Feste auszurichten, die von einer Kronen-Presse begleitet werden, gibt es auch einen literarischen Adel. Seine Aufgabe besteht in der internationalen Vernetzung, dem Abklappern diverser Lehrstühle und der Weitergabe von Insider-Namen an Verlage quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Tomas Venclova ist vielleicht so ein Literatur-Adeliger, seine Leistung ist überschaubar, 240 Gedichte und drei Stadtführer über Vilnius, aber sein Herumflippen zwischen Vilnius, Moskau und Berkley ist sehenswert. Sein Lebensmotto ist das angenehme Exil.

cornelia travnicek, parablühBesonders schöne Kurven gelingen in der Mathematik immer, wenn man sie als Ableitungen ausführt. Zuerst wird die Wirklichkeit auf der ersten Ebene vermessen, daraus lassen sich dann diverse Ableitungen ziehen, die die besondere Wirklichkeit aus einer Wirklichkeit herausdestillieren.

Das poetische Projekt Parablüh ist eine sogenannte Ableitungslyrik. Cornelia Travnicek zieht aus einer bereits lyrisch gezogenen Konsequenz eine weitere. Über die Gedichte der Sylvia Plath werden dabei Monologe gespannt. Sylvia Plath (1932-1963) gilt nicht zuletzt wegen ihres Suizids als Ikone für eine Literatur, die zu Lebzeiten nicht verstanden werden kann. Umso heftiger setzen sich mittlerweile ganze Generationen mit ihr auseinander, um sich mit ihr zu solidarisieren und ihr ein posthumes Farewell zu setzen.

Franz schuh, fortunaOft hilft ein Piktogramm, damit man sich etwas Abstraktes vorstellen kann. Im Falle der Fortuna steht eine Frau mit dem Rücken zum Zuschauer an einer laternenpfahlähnlichen blauen Säule und ist mit dem rechten Träger des Badeanzugs an einen Strich aus Sommer angekettet.

Franz Schuh erzählt ähnlich wie das Cover auf seinem „Magazin des Glücks“, überschaubar, reduziert, weiträumig und logisch. Man liest die längste Zeit und merkt gar nicht, dass man schweres philosophisches Gelände bewältigt hat. Seine Gedankengänge führt er oft als Unterflurtrasse durch seine eigene Textlandschaft, die beschwingt wie ein Erlebnisroman über den Fährnissen des Erzählers angelegt sind.

gegen den ballEin guter Roman ist wie ein Fußballspiel, Figuren rennen mehr oder weniger koordiniert einem Thema nach, Gedankengänge werden abgeblockt, plötzlich tun sich Alternativen auf, und zwischendurch gibt es starke Emotionen, wenn sich jemand verletzt hat oder gar sein Ziel erreicht, indem er das berühmte Goal macht.

Längst gilt Fußball als Kultureinrichtung wie die Oper oder das Literaturhaus, auf die Spitze getrieben wird dieser Respekt vor dem Fußball, wenn sogenannte Nationalmannschaften aus Dichtern im Rahmen eines Kulturfußballfestes gegen einander antreten mit der Absicht, niemanden außer den Ball zu treffen.