Inge Barth-Grözinger, Stachelbeerjahre

Buch-Cover

"Aber was kümmerte jetzt Marianne der letzte Krieg, von dem man kaum etwas erzählte und wenn, dann nur flüsternd, als handle es sich um ein großes Geheimnis. So wie man auch nie über den Tod ihres Vaters redete. Ihres Vaters" (22)

Marianne ist ein Kind der Nachkriegszeit und lebt gemeinsam mit ihrer Schwester Sieglinde und ihrer Mutter bei Großvater Gottfried und Großmutter Hedwig Holzer. Vater Walter Holzer war noch kurz vor Kriegsende in Berlin gestorben und so musste Mariannes Mutter den ganzen Tag in einer Fabrik arbeiten, um den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen.

Während Großvater Gottfried Marianne immer liebevoll behandelte, erlebte sie Großmutter Hedwig nur als streitsüchtige, bösartige Frau, die sich nur für ihre ältere Schwester Sieglinde interessierte, sodass ihr jeder versuchte aus dem Weg zu gehen.

Marianne konnte das gut verstehen, denn jeder im Haus war froh, wenn er den schrillen Befehlen der Alten  entkommen konnte. Jeder, außer ihrer Schwester Sieglinde, dem Schätzchen, dem Augenstern, wie die Alte sie nannte. Und das gab Marianne jedes Mal einen Stich ins Herz, denn sie war doch auch ihre Großmutter, aber sie, Marianne, war stets nur der Kuckuck. (15)

Es sollte nicht lange dauern und Marianne würde schmerzvoll erfahren, woher die Ablehnung ihrer Großmutter herrührt. Als sie eines Tages in der Schule ihren Familienstammbauch präsentieren soll, muss sie erkennen, dass alle Mitschülerinnen und Mitschüler bereits wissen, was ihr bis zu diesem Tag verschwiegen worden war: Sieglindes Vater, Walter Holzer, war nicht ihr Vater. Ihr richtiger Vater war ein Französischer Besatzungssoldat namens Yves Dupont, der bereits vor ihrer Geburt wieder nach Frankreich versetzt worden war. Jetzt beginnt sie auch zu begreifen, warum sie von ihrer Großmutter immer verächtlich als Kuckuck bezeichnet worden war.

Aber Marianne war nicht das einzige Opfer eines Krieges, über den niemand sprechen wollte. Großvater erzählte von Johann Danner, dem Vater ihrer Freundinnen Gerda und Gisela, der während der Naziherrschaft abgeholt und fortgebracht worden war und der nie über seine Zeit der Gefangenschaft gesprochen hatte. Auch der hilfsbereite jüdische Arzt Dr. Löwenstein und seine Familie seien eines Tages weg gewesen und ihr Hab und Gut verteilt worden.

Daneben weist die Zeit des beginnenden Wirtschaftswunders bereits in eine moderne Zukunft, als in den Elektrogeschäften die ersten Fernsehgeräte angeboten werden und Marianne davon träumt möglichst rasch zu wachsen, um von ihrer Familie wegzukommen und ihren Vater in Frankreich zu finden. So vergehen die Jahre und während ihre Schwester von einer Liebesheirat und Kindern träumt, versucht sich Marianne mit allen Mitteln weiter zu bilden und liest alles, was ihr zwischen die Finger kommt, bis eines Tages im Jahr 1959 ein italienischer Gastarbeiter namens Enzo Castello an der Haustür klopft und die Herzen aller Frauen im Haus erobert.

Inge Barth-Grözinger gelingt es auf stille aber eindringliche Weise die Atmosphäre der Nachkriegszeit vor den Augen der Leserinnen und Leser zum Leben zu erwecken. Wir erleben die Schatten der Naziherrschaft und des Krieges, die immer noch alle Lebensbereiche bedecken ebenso wie die Gefühlskälte einer Generation, der die Diktatur, die Leiden des Krieges aber auch eigene Schuld Mitgefühl und Kinderliebe verleidet zu haben scheinen. Aber auch die drohenden Schatten der Zukunft, der kalte Krieg und die beginnende Angst vor den alles zerstörenden Atombomben sind Teil dieses Lebensgefühls, das auf der anderen Seite die heile Welt der Filmindustrie mit ihren Sissi Filmen und dem aufbegehrenden Lebensgefühl des Rockn Roll zeigt.

Ein ungemein lebendiges und authentisches Buch zur Nachkriegszeit in Deutschland, der mit seinen zahlreichen Details, die Leserinnen und Leser in eine ambivalente Zeit entführt, die sowohl durch ihre dunklen Schatten als auch durch ihre Aufbruchsstimmung gekennzeichnet ist. Ein überaus empfehlenswerter Roman zur jüngeren Geschichte für ein jugendliches Publikum.

Inge Barth-Grözinger, Stachelbeerjahre. Ab 13 Jahren
Stuttgart: Thienemann-Verlag 2011, 352 Seiten, 17,40 EUR, ISBN 978-3-522-20081-3

 

Weiterführender Link:
Thienemann-Verlag: Inge Barth-Grözinger, Stachelbeerjahre

 

Andreas Markt-Huter, 20-09-2011

Bibliographie

AutorIn

Inge Barth-Grözinger

Buchtitel

Stachelbeerjahre

Erscheinungsort

Stuttgart

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

Thienemann-Verlag

Seitenzahl

352

Preis in EUR

17,40

ISBN

978-3-522-20081-3

Lesealter

Zielgruppe

Kurzbiographie AutorIn

Inge Barth-Grözinger wurde in Bad Wildbad im Schwarzwald geboren. Seit 25 Jahren unterrichtet sie am Peutinger-Gymnasium in Ellwangen die Fächer Deutsch und Geschichte.