Werner Fritsch, Cherubim

Buch-Cover

Ein Cherubim ist ein Fabelwesen, das fliegen kann. In der Literatur kann sich der Text selbst Flügel anschnallen und durch die Jahrhunderte fliegen.

Werner Fritsch erzählt in seinem Cherubim nicht mehr und nicht weniger als das Schicksal eines Knechtes, der fast ein Jahrhundert lang mit sich selbst in einer ziemlich unfreundlichen und sozial harten Gegend unterwegs ist.

Der Text beginnt mit dem schwarzen Loch des Urknalls, mit schroffen Wortfetzen fügt sich aus dem Weltall eine irdische Realität zusammen und schafft so eine Bühne für ein geknechtetes Menschenschicksal. Im bayrischen Bermuda-Dreieck zwischen Eger (Cheb), Waldsassen und Tirschenreuth kommt ein Mensch auf die Welt und muss sich durchschlagen. Da ist keine Rede vom leichten Flügelschlag des Cherubims, die Erde ist hart und will mit bloßen Füssen begangen und mit bloßen Händen beackert werden.

Die Epochen der Welt sind abgestimmt mit dem individuellen Schicksal: Von der Ewigkeit bis 1905, 1905-1919, 1919-1945, 1945 bis gegen Ende, vom Ende bis zur Ewigkeit. In der Ewigkeit schließt sich der Zeitring wieder.

Aus der Sicht des Erzählers läuft die Weltgeschichte ziemlich holprig, sinnzersprungen und vor allem entlegen ab. Einmal im Windschatten der Geschichte gelegen, kommt einem der Hauptstrang der Geschichte recht makaber vor. Von irgendwo her kommt die Schulpflicht, irgendwer befiehlt Arbeit, in dieser Gegend wird viel Glas geblasen, dann kommt Hitler, der durch einen kleinen Sprachfehler zum Hiltler wird, in der überschaubaren Welt geht es plötzlich drunter und drüber, bis dann wieder schweineharte Arbeit kommt, vom strengen Herrscher auf dem landwirtschaftlichen Hof angeordnet.

Der Erzähler setzt seine Geschichten immer wieder aufs Neue ins Gehör, jeder Beginn startet auf einer frischen Seite. Manchmal dauert so eine Episode nicht viel länger als zwei drei Sätze.

Was heißt Sätze, der Erzähler hat sich eine eigene Sprache zurechtgelegt, sie ist verwinkelt, manchmal autistisch, dann wieder atemlos und hält sich an keine gängige Grammatik. Diese schroffe Sprache nützt in einer schroffen Umgebung, mit ihr lassen sich politische Grobheiten aushalten, Befehle umsetzen, die Stunden im inneren Monolog bewältigen. Freilich ist diese Sprache für Gefühle ziemlich grobschlächtig. Allein wie der Erzähler sein Weib sucht und ihr Kinder besorgt, so lange sie noch jung ist, lässt eher an eine tierische Begebenheit denken als an erotische Umgarnung.

Werner Fritschs Cherubim ist eine kurz angebundene Biographie, die straff in die Speichen des letzten Jahrhunderts gespannt ist. Der Text ist ein kaltschnäuziger Heimatroman, eine Sprachstudie der Sprachlosigkeit, ein üppiger Geschichtenstrauß aus einer von der Geschichte mit Verachtung abgelegten und geographisch abgelegenen Gegend. Ein wilder Text, der mit knarrendem Flügelschlag durch die Zeiten rast.

Werner Fritsch, Cherubim.
Frankfurt/M: Suhrkamp 1994. (EA1987). 254 Seiten. EUR 13,40. ISBN 3-518-40614-0.

 

Weiterführende Links:
Wikipedia: Werner Fritsch
Perlentaucher: Werner Fritsch, Cherubim (Hörbuch)
Suhrkamp-Verlag: Werner Fritsch, Cherubim

 

Helmuth Schönauer, 03-10-2007

Bibliographie

AutorIn

Werner Fritsch

Buchtitel

Cherubim

Erscheinungsort

Frankfurt

Erscheinungsjahr

1994

Verlag

Suhrkamp

Seitenzahl

254

Preis in EUR

13,40

ISBN

3-518-40614-0

Kurzbiographie AutorIn

Werner Fritsch, geb. 1960 in Waldsassen/Oberpfalz, lebt in Berlin.

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