Jürg Amann, Die Reise zum Horizont

amann, horizontSchon seit ein er halben Ewigkeit gibt es im Literaturbetrieb die Gattung Novelle. Darin wird in der Portion eines leichten Leseabends ein besonderes Ereignis aus dem Leben herausgegriffen und kunstvoll beleuchtet.

Wenn heutzutage ein Autor auf die Gattung Novelle zurück greift, so will er vor allem eines; dem Stoff eine gewisse Harmonie der Lesbarkeit geben.

Jürg Amann verwendet für seine "Katastrophen-Novelle" ein Ereignis, das 1972 in den Anden stattgefunden hat. Ein Flugzeug ist abgestürzt und die Überlebenden essen schließlich das Fleisch der toten Mit-Passagiere. Als sie gerettet werden, müssen sie sich einem Gericht stellen, das nach moralisierenden Gesichtspunkten den Überlebenskampf beurteilt.

Im Sinne der Novelle wird aus dem Unglück mit vielen Unwägbarkeiten ein harmonischer Text wie aus einem Guss. Das liegt einerseits im völlig zurückgenommenen lakonischen Ton, der die Sachlage lapidar wie einen negativen Schöpfungsbericht beschreibt, andererseits an der überirdischen Perspektive, ein kollektives Wir schlägt sich durch die chaotische Zeit nach dem Absturz.

Dieses erzählende Wir ermöglicht eine recht aufwühlende Beschreibung des sogenannten Kannibalismus, denn die ursprünglich kollektiv lebende Masse spaltet sich in die Überlebenden und Toten, dabei geraten mit der Zeit die Toten in die Überzahl, aber die Lebenden behalten die Überhand, indem sie das Fleisch der Toten essen. Natürlich lässt sich an manchen Stellen eine Konnotation der Liturgie nicht ausblenden, Fleisch werden, Fleisch essen und überleben gehen fließend in einander über.

Die Novelle ist in vierzig zweiseitige Sequenzen unterteilt, es gibt keine genauen Zeitangaben, keine Namen, keine Dialoge. Die Zeit strömt zeitlos dahin, die Überlebenden verlieren jeglichen Überblick über sich und konzentrieren sich auf das Überleben. Als man schon fast nicht mehr damit rechnet, beschließt die Truppe dann doch, das Wrack zu verlassen und zum großen Horizont aufzubrechen.

Unser Aufbruch verzögerte sich. Wir verzögerten ihn. Immer wieder. Von Tag zu Tag. Noch einmal und noch einmal. [...] Aber dann, als wir es schon nicht mehr von uns erwarteten, gingen wir trotzdem. Nach Westen, über den nächsten Grat, aus unseren Kessel hinaus, und von da immer abwärts: das war unsere Hoffnung.

Jürg Amanns Novelle reiht sich ein in eine Gattung, die wir spätestens seit Thornton Wilders Brücke von San Luis Rey "geläuterte Katastrophenliteratur" nennen können. Darin ist ein passables Unglück die Folie, auf der erlösende, transzendierende oder existentielle Gedankengänge abgespielt werden. Eine Art stille Meditation über ein Schlagzeilenträchtiges Unglück, die nur eines vor hat, dem desaströsen Ereignis irgendwie einen Sinn zu geben.

Jürg Amann, Die Reise zum Horizont. Novelle.
Innsbruck: Haymon 2010. 104 Seiten. EUR 16,90. ISBN 978-3-85218-640-5.

 

Helmuth Schönauer, 25-08-2010

Bibliographie

AutorIn

Jürg Amann

Buchtitel

Die Reise zum Horizont

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2010

Verlag

Haymon

Seitenzahl

104

Preis in EUR

16,90

ISBN

978-3-85218-640-5

Kurzbiographie AutorIn

Jürg Amann, geb. 1947 in Winterthur, lebt in Zürich.

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