Seidel, Jürgen: Blumen für den Führer
Dieser wirklich herausragende Roman erzählt die Geschichte von Menschen, die zu der Zeit lebten, als Hitler an Macht gewann, als das Gute und Schöne zunehmend mit dem Deutschen gleichgesetzt wurde und die NS-Ideologie auf fruchtbaren Boden fiel.
Sommer 1936 - die Geschichte führt uns in ein Waisenhaus und lässt uns teilhaben an den Gedanken und Wünschen von den Mädchen, die dort leben. Man lernt die gestrenge Leiterin fürchten und eine liberal eingestellte Erzieherin lieben, die von den Mädchen sehr geschätzt wird. Zu den Idolen der Mädchen zählt Dr. Albert Schweitzer, von dem Reni, die Hauptfigur, immer wieder Fantasiegeschichten zur Schlafenszeit erzählt. Reni weiß nichts über ihre Eltern, erträumt sie jedoch an der Seite des für sie gottgleichen Dr. Schweitzer, der in Afrika den "Negern" hilft. Ihre Geschichten erzählt sie so blumig und realitätsnah, dass es den Mädchen oft schwer fällt, Phantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden.
Doch es gibt ein zweites Idol, das den Backfischen noch gewaltiger und anbetungswürdiger erscheint: der Reichskanzler Adolf Hitler. Wie einen Schatz hüten sie Straßenstaub, den dessen Füße berührt haben sollen, sowie eine Haarsträhne und abgeschnittene Fingernägel. Reni hat in ihrem Kasten eine ganze Mappe mit Bildern des Führers versteckt und alle ihre Freundinnen teilen ihre Schwärmerei.
Die Hauptfigur, die 15-jährige Reni, wird jedoch sehr bald aus dem Gefüge des Heimlebens gerissen. Schon immer hat sie auf Grund ihrer herausragenden Schönheit und ihres scharfen Verstandes eine dominante Rolle in der Gemeinschaft inne. Nun aber stellt sich heraus, dass ein Graf, auf dessen Grundstück sich das Heim befindet, ihr richtiger Vater ist, der sich nun endlich auch zu seinem Kind, das er mit einer früheren Hausbediensteten gezeugt hat, bekennen möchte. So wird Reni urplötzlich zur "Komtesse Renata' und führt nun, fernab von ihren Freundinnen und ihrer Vertrauen, der Erzieherin Knesebeck, ein völlig anderes Leben.
Immer wieder beschleichen sie Zweifel bezüglich der Dinge, über die der Vater spricht, er hält ihr Vorträge über neue Verpflichtungen, die großen Zusammenhänge, das neue Zeitalter. Reni kann oft nur erahnen, was der Graf, sichtlich angetan von der neuen Ideologie, damit meint, doch die Bewunderung für ihn und den neuen Lebensstil, an den sie sich eben erst gewöhnen muss, lassen sie alle Zweifel über Bord werfen. Hinzu kommt, dass sie sich voll und ganz auf ihre Aufgabe konzentrieren muss: Zur Eröffnung der Olympischen Spiele in Berlin wird ihr die Ehre zuteil, dem Führer einen Strauß Blumen zu überreichen. Dieses Ereignis werde, so wird ihr von allen Seiten versichert, ihr Leben verändern.
Die Überreichung der Blumen ist jedoch in Wirklichkeit eine eher banale Angelegenheit und dauert nur einen Augeblick. Reni hat sich vorgenommen, dem Führer viele Fragen zu stellen und ihn zu bitten, Dr. Schweitzer eine dringend benötigte Lieferung von Wellblech für die afrikanischen Hütten zukommen zu lassen. Wieder zu Hause, schmückt Reni die Begegnung großzügig aus und lässt die Überreichung wie einen göttlichen Moment aussehen - das Geschichtenerzählen liegt ihr ja im Blut.
Parallel zu Renis Geschichte gibt es im Buch einen weiteren Erzählstrang, dessen Hauptfigur der Bauernsohn Jockel ist. In diesem Teil der Geschichte geht es weitaus brutaler zu, Jockel und sein Bruder werden vom Vater regelmäßig verdroschen. Die Söhne wünschen sich ein Leben in Freiheit, der ältere Bruder flüchtet schließlich nach Hamburg, weil er zur See fahren möchte. Jockels Leidenschaft sind einerseits die Segelflieger, die ihre Kreise über den Äckern ziehen, andererseits die hübsche Reni, die er bei der Feldarbeit kennen lernt.
Das Mädchen aber wird durch ihren gesellschaftlichen Aufstieg für Jockel unerreichbar und als er bei einer Auseinandersetzung mit einem Knecht diesen unabsichtlich tötet, ist es auch mit dem Wunsch, ein Pilot zu werden, aus. Ihm bleibt nur die Flucht, die er mit Hilfe von ein paar Wohlgesinnten gerade so überlebt. Es kommt jedoch noch zu einer Begegnung zwischen der Komtesse und dem Bauernjungen, denn auch Renata muss viel an ihn denken und besucht ihn heimlich im Krankenhaus. Dort schmieden sie den Plan, dass sie sich irgendwann wieder sehen, wenn Jockel es als Flieger zu etwas gebracht hat. Vorerst aber müssen sich ihre Wege trennen.
An zahlreichen Nebenschauplätzen erfährt der Leser von zunehmendem Denunziantentum in der Bevölkerung, von der Gefahr, anders zu denken und das auch noch laut auszusprechen. Gegner des neuen Zeitalters werden bereits verhaftet, verhört und gefoltert. Reni bekommt von dieser dunklen Seite jedoch nichts mit, sie lebt nun in den "besten Kreisen", die eine große Nähe zu Hitler pflegen.
Die Geschichte endet damit, dass sich Jockel auf einem Schiff in Richtung Amerika befindet, zusammen mit seinem Bruder Helmuth, während Reni in einen "erlesenen" Zirkel eingeführt wird. Es handelt sich dabei um eine illustre Gesellschaft, die sich um Adolf Hitler geschart hat. Erschrocken bekommt Reni mit, dass man bereits über ihre Verlobung mit einem NS-Granden tuschelt. Das Letzte, was wir von Reni erfahren, lautet folgendermaßen:
Ihre Traurigkeit vermischte sich mit Dankbarkeit und einem sonderbaren, aber schönen Stolz auf das, was sie erkannte: Dass sie noch immer Reni Anstorm war. Komtesse Renata war sie ebenfalls. Aber da lag noch ein Stück vor ihr, das sie gehen musste. Sie entschloss sich, allen zu verzeihen. Denn jeder hatte seine Gründe, so zu handeln, wie er handelte. Dies zu verstehen, überlegte sie, ist wohl das erste große Lebensglück.
Der Roman "Blumen für den Führer" ist ein wirklich ausgezeichneter Jugendroman über die frühe Nazizeit. Der Blick wird auf die unterschiedlichsten Schichten, auf die verschiedensten Schicksale gelenkt. Es wird Verständnis dafür geschaffen, wie ein ganzes Volk von der Ideologie des Nationalsozialismus durchtränkt werden konnte und es wird aufgezeigt, wie wenig die Begeisterung für die Person Adolf Hitlers bei Mädchen, die unsere Großmütter oder Urgroßmütter sein könnten, mit einer politischen Einstellung zu tun hatte.
Jürgen Seidel beweist ein großes Geschick, wenn es um die Schaffung einer Atmosphäre geht, die doch für uns alle - mit dem heutigen historischen Wissen und dem zeitlichen Abstand - immer noch so unbegreifbar ist. Ich würde jeder Bücherei dieses Buch wärmstens empfehlen, da es für LeserInnen ab 14 eine ausgezeichnete Ergänzung zum Geschichteunterricht dieser Schulstufe darstellt.
Jürgen Seidel, Blumen für den Führer, ab 14 Jahren
München: cbj-Verlag 2010, 432 Seiten, 17,50 EUR, ISBN: 978-3-570-13874-8
Weiterführende Links:
Cbj-Verlag: Jürgen Seidel, Blumen für den Führer
Andrea Zeindl, 21-04-2010