Nachgelesen - ANNO dazumal: Der 21. Oktober 1905

Was bewegte die Menschen in Tirol vor genau 100 Jahren oder besser gesagt: Was konnten sie in ihren Tageszeitungen am 21. Oktober 1905 lesen. Mit Hilfe des virtuellen Zeitungslesesaals der Österreichischen Nationalbibliothek "ANNO" kann online in historischen österreichischen Zeitungen und Zeitschriften geblättert und gelesen werden.

Speziell für den Tiroler Raum kann bei den Tageszeitungen vorerst nur auf die  "Innsbrucker Nachrichten" zurückgegriffen werden. Diese stehen dafür aber bereits für die Jahre 1854 - 1916 digitalisiert zur Verfügung und reichen damit mehr als 150 Jahre in die Tiroler Vergangenheit zurück. Wir haben dieses Angebot genützt, um eine kleine Zeitreise zu unternehmen: nämlich um genau 100 Jahre, zum 21. Oktober 1905.

Zum historischen Umfeld

1905 darf als ein sehr bewegtes Jahr beurteilt werden. Die latente Spannung zwischen den großen Weltmächten spiegelt sich in zahlreichen Krisen wieder: Im Wettlauf um die Kolonien in Afrika kommt es 1905 in  Nordafrika zur "1. Marokko-Krise". Der Streit zwischen Deutschland und Frankreich führt zu einer Festigung des Bündnisses zwischen Großbritanien und Frankreich. Das Streben nach der Vorherrschaft im Fernen Osten von Russland und Japan gipfelt 1904/05 im "Russisch-Japanische Krieg", der 1905 auf Vermittlung des amerikanischen Präsidenten im "Frieden von Portsmouth" beendet wird. Ausgelöst durch den Krieg kommt es in Russland 1905 zu Aufständen und Unruhen. Die "Russische Revolution von 1905" führte zur Schaffung einer gewählten Volksversammlung.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lähmt der Konflikt zwischen den zahlreichen Nationalitäten des Vielvölkerstaates bereits das politische Leben in der k.u.k Monarchie. Das führt soweit, dass der Reichsrat nicht mehr arbeitsfähig ist. Nach dem Niedergang der k.u.k. Monarchie schreibt Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften:

Seit Bestehen der Erde ist noch kein Wesen an einem Sprachfehler gestorben, aber man muß wohl hinzufügen, der österreichischen und ungarischen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie wiederfuhr es trotzdem, daß sie an ihrer Unaussprechlichkeit zugrunde gegangen ist.
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften

Auch Tirol bleibt vom zunehmenden Nationalismus nicht verschont. Seit der Einigung Italiens 1870 wachsen die Bestrebungen im italienischsprachigen Teil Tirols, sich dem neuen Staat Italien anzuschließen. Die sich daraus ergebenden Spannungen zwischen den Sprachgruppen in Tirol äußern sich in den politischen Debatten des Tiroler Landtags, wo italienischsprachige Abgeordneten immer öfter Autonomie und Eigenständigkeit für den italienischsprachigen Teil Tirols fordern.

"Die Teilung des Landesschulrates"

"Die Teilung des Landesschulrates" heißt es auf der Titelseite der Innsbrucker Nachrichten vom 21. Oktober 1905. Im Mittelpunkt der Berichterstattung steht der Antrag des Italienischen Landtagsklubs, den Landesschulrat in eine deutsche und eine italienische Abteilung zu unterteilen. Diese Forderung wird als so ungeheuerlich empfunden, dass sie auf der Titelseite der Innsbrucker Nachrichten Eingang findet. Im Artikel wird klar für die Haltung der Vertreter der deutschsprachigen Mehrheit Position bezogen.

Im Tiroler Landtage ist vom Italienischen Klub der Antrag gestellt worden: "Es solle ein Gesetzesentwurf ausgearbeitet werden, der die Teilung des Landesschulrates in zwei Sektionen, eine deutsche und eine italienische, gesetzlich festlegt in der Weise, daß der einen die deutschen, der anderen die den italienischen Landesteil betreffenden Schulangelegenheiten zugewiesen werden."

In der Begründung wird von dem Antragsteller Dr. Silli selbst darauf hingewiesen, daß dies ein Teil der erstrebten "Autonomie", also der erste Schritt zur Erreichung einer vollständigen Abtrennung eines Teiles von Tirol aus dem uralten Landesverband sein soll ...


Bereits der Leitartikel der "Innsbrucker Nachrichten" hatte die zunehmenden Spannungen zwischen den Nationalitäten auch in Tirol zum Inhalt.

Aber auch deutsch-nationale Gruppierungen stellen in Tirol ein zunehmend größer werdendes gesellschaftliches und politisches Gewicht dar. So wird der "Tiroler Volksbund" gegründet, um die nationalen Interessen der deutschsprachigen und ladinischsprachigen Bevölkerung in Tirol zu vertreten. (Nach dem Ende des 1. Weltkrieges wird er sich in Andreas-Hofer-Bund umbenennen.) Der Antrag Teilung des Landesschulrates stößt beim Tiroler Volksbund auf heftige Ablehnung:

[...] Der "Tiroler Volksbund" dessen Ziele als bekannt vorausgesetzt werden dürfen, betrachtet es als seine Hauptaufgabe, den aus dem Auslande nach Tirol verpflanzten Bestrebungen entgegenzuwirken, welche dem alten Bestande und den alten Volkstümern des Landes feindlich gesinnt sind und deren letztes Ziel die Zerstörung der Landeseinheit und die Zerstückelung  des Landes ist.

[...] Man erinnert sich dabei der Tatsache, daß die - an Zahl geringen - Träger der Trennungsbewegung bei jeder Gelegenheit selbst stets offen ausprechen, daß sie keine Tiroler seien. Bei solchem Empfinden und bei einer solchen Stellung dem Vaterlande gegenüber ist es denn auch wohl verständlich, daß sie allem feindlich gegenüberstehen, was einem Tiroler stets heilig war und heilig sein wird.
Innsbrucker Nachrichten Nr. 242, Samstag 21.10.1905, Seite 1

Die neuesten Buchtitel anno 1905

Im Inseratenteil der Zeitung kündigt die Wagner´sche Leihbibliothek ihre neuesten Buchtitel an. Von den angeführten Autoren sind heute die meisten - bis auf Knut Hamsun und Peter Rosegger - in Vergessenheit geraten. Allein die Buchtitel malen ein literarisches Stimmungsbild der ausgehenden Monarchie:

  • Wilhelm Arminius, Frauenkämpfe. Ein Novellenbuch
  • Otto Julius Bierbaum, Zwei Stilp-Komödien
  • Anga Coch, Auf steiniger Erde
  • E.R. Admiral Fremantle, Fünfzig Jahre zur See. Die Marine, wie ich sie kannte 1849-1899
  • Knut Hamsun, Kämpfende Kräfte. Novellen
  • Ludwig Kubel, Die Apotheke zu Angerbeck
  • Theo Malade, Geschichten von der Scholle
  • Max Nordau, Von Kunst und Künstlern. Beiträge zur Kunstgeschichte
  • Josef Popper (Lynkeus), Voltaire. Eine Charakteranalyse, in Verbindung mit Studien zur Ästhekik, Moral und Politik
  • Peter Rosegger, Wildlinge 
  • Freiherr von Schlicht, Ein Adjutantenritt. Militär-Humoresken

    Innsbrucker Nachrichten Nr. 242, Samstag 21.10.1905, Seite 10

Peter Rosegger über Adalbert Stifter

Der österreichische Schriftsteller Peter Rosegger würdigte in einem ausführlichen Artikel im Literaturteil der Innsbrucker Nachrichten Adalbert Stifter zum 100. Geburtstag. Im letzten Teil seiner Würdigung schrieb Rosegger:


Peter Rosegger würdigte seinen Lieblingsautor Adalbert Stifter
1905 in einem Artikel der Innsbrucker Nachrichten.

Ein Adalbert Stifter-Bekenntnis. Über Adalbert Stifter habe ich folgendes zu sagen: Unter allen Erzählern ist er mir der liebste. Bei dem Lesen seiner Schriften wird einem so behaglich, als wiege man sich in einer Sänfte unter dem blühenden Apfelbaum. Wenn ich mir einen feinen Seelenfesttag machen will, so gehe ich in die stillste meiner Stuben oder an den Waldrain, wo man frei hinaussieht über die Felder und Matten und lese eines der wundersamen Naturbilder von Adalbert Stifter.

So sparsam ich vorgehe mit diesem Genuß, in wenigen Jahren bin ich doch herum, und ist die letzte Erzählung gelesen, fange ich bei der ersten wieder an. Also habe ich seit vierzig Jahren ungefähr achtmal den ganzen Stifter gelesen (mit Ausnahme des Witiko) und, anstatt etwa langweilig, wurde er mir immer lieber.
Innsbrucker Nachrichten Nr. 242, Samstag 21.10.1905, Seite 19

Zu lesen gibt es aber auch 1905 nicht nur politische und kulturelle Berichterstattung sondern vor allem auch sehr viel Werbung und Inserate:

Das erste Inserat wirbt nach der Art der Marktschreier, was durch den telefonierenden Engel zusätzlich unterstrichen wird:



Guten Morgen! Wasche Dich mit Ray-Seife! 
denn Ray-Seife, welche nach patentiertem Verfahren aus Hühnerei hergestellt wird, ist durch die kostbaren Stoffe, Eiweiß und Dotter einzig in ihrer Art, die Haut zu verschönern und verfeinern. Eine Waschung mit Ray-Seife bereitet ganz besonderes Wohlbehagen. Wenige Reibungen genügen, um einen prächtigen Schaum zu erzeugen, der durch seine Weichheit und eigenartige Konsistenz direkt verblüfft. Säumen Sie nicht, einen Versuch zu machen. Die unvergleichlich wohltätige Wirkung der Ray-Seife wird Sie entzücken. Trotz ihrer eminenten Vorzüge kostet Ray-Seife nur 70 Heller, also nicht mehr als andere gebräuchliche Toilettenseifen.
Innsbrucker Nachrichten Nr. 242, Samstag 21.10.1905, Seite 20

Dass sich in Tirol bereits vor 100 Jahren mit der Wasserkraft Geschäfte gemacht worden sind, zeigt das abschließende Inserat:



In einer größeren Ortschaft Tirols ist eine größere Wasserkraft zu verkaufen
sehr geeignet zum Bau einer Fabrik. Größeren Baugrund und unbeschränkte Wasserkraft. Näheres in der Expedition unter Nr.15871.
Innsbrucker Nachrichten Nr. 242, Samstag 21.10.1905, Seite 24

Wir beenden unseren kurzen Ausflug in die "Tiroler Lese-Vergangenheit" und kehren wieder in die Gegenwart zurück. Die Möglichkeit, eine solche Zeitreise mit Hilfe der "Austrian Newspaper Online" (ANNO) zu wiederholen, aber bleibt bestehen.

Andreas Markt-Huter, 21-10-2005


Weiterführende Links:
ANNO: Innsbrucker Nachrichten, 21.10.1905
Peter Stachel, Ein Staat der an einem Sprachfehler zugrunde ging. Die "Vielsprachigkeit" des Habsburgerreiches und ihre Auswirkungen

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