Frühe Lesesozialisation - Wie kommt das Kind zum Buch?

Zahlreiche aktuelle Untersuchungen zum Lesen belegen, dass zu viele Schüler in Österreich die Schule ohne ausreichende Lesekompetenzen verlassen, vor allem Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien bzw. aus sogenannten schriftfernen Lebenswelten.

Der traurige Ist-Zustand der Lesefertigkeiten unserer Schüler ist hinlänglich bekannt und ich verzichte an dieser Stelle bewusst auf Zahlen, die dies belegen. Nun ist es das eine, um die Defizite zu wissen, das andere aber, Wege zu suchen, um den Kindern den Erwerb dieser wichtigen Kompetenz zu ermöglichen.

An der Schule liegt es nicht

In der Schule wurde wohl noch nie so fundiert Leseunterricht geboten wie heute, die Lehrer haben die unterschiedlichsten tollen Konzepte, Autorenlesungen werden organisiert, Lesepaten rekrutiert, Bücherkoffer wandern von Klasse zu Klasse, Lesestationen werden aufgebaut, Lesenächte veranstaltet, mit kreativsten Mitteln wird versucht die Kinder zum Buch zu locken - allein die Motivation der Kinder zu lesen scheint nicht entfacht werden zu können.

Die Geschichte eines glücklichen Kindes

Vor kurzem las ich das interessante Buch ... und ich war nie in der Schule. Andrè Stern, der nie eine Schule besuchte, beschreibt darin ein Elternhaus, in dem das selbsttätige Lernen stets im Vordergrund stand, das eiserne Vertrauen der Eltern in die nach ihrer Überzeugung dem Kind zutiefst zu Grunde liegende Lernbereitschaft  und eine Kindheit, in der das Buch als Lehrmeister fester Bestandteil des Alltags war. Er schreibt:

Als ich etwa drei Jahre alt bin, rufe ich, nachdem ich konzentriert eine beschriebene Seite betrachtet habe, laut aus: Oh, da sind Eier und Eierbecher! Mama und Papa kommen neugierig herbei und ich deute mit dem Finger auf die Buchstabenkombination C und O. C und O sind also die ersten Schriftzeichen, die ich kennenlerne. Wahrscheinlich bin ich der einzige Mensch auf Erden, der auf diese Weise mit dem Lesen begonnen hat, und es erschiene Ihnen gewiss abwegig, allen Kindern weltweit eine Lernmethode aufzuzwingen, die mit C und O beginnt - aber was ist dann mit den Methoden, die mit A und B beginnen?1

Diese Zeilen gaben mir zu denken und ließen mich wieder einmal gewahr werden, dass das Lernen  ganz im Verborgenen von statten geht. Was sich in den Köpfen der Kinder abspielt, bleibt dem Lehrer, der Lehrerin oft nicht nachvollziehbar. Stern beschreibt auch weiter, dass in ihm nach dieser Entdeckung das Interesse für Buchstaben geweckt war und er auch lernte, einfache Wörter zu entziffern, nach dem ersten Feuer ruhte die neue Gabe allerdings einige Zeit - sein Interesse gehörte anderen Dingen -, um sich dann im flüssigen Lesen zu offenbaren. Weiters berichtet er, dass in seinem Elternhaus häufig laut vorgelesen wurde.

Dies mag ein etwas extremes Beispiel sein und ich will hier nicht im Geringsten gegen das Lesenlernen in der Schule wettern, aber ich glaube, dass sich Lehrer immer wieder ins Bewusstsein rufen sollten, dass Lernwege sehr unterschiedlich aussehen können und wir den Kindern möglichst viel Spielraum geben sollten, damit sie ihren eigenen Weg gehen können -  der Lehrer als Wegbegleiter in einem möglichst offenen Lernraum also. Denn diese Art von Lernen ist eine, die fast nebenbei geschieht, oder haben Sie in dem von Ihnen häufig besuchten Einkaufszentrum auswendig gelernt, wo welches Geschäft zu finden ist? Sie gingen öfters hinein und nach kurzer Zeit wussten Sie, wo sie hinmussten, wenn sie ein Heft kaufen wollten.

Der Inhalt des Buches zeigt aber noch etwas: Die Bedeutung des Elternhauses in der Begegnung mit Büchern und dem Lesen. Denn Lesen beginnt bereits weit vor dem Eintritt in die Schule.

Vorschulische Erziehung zum Lesen

Die Forschung ist sich einig, dass Lesenlernen weit vor Schuleintritt beginnt (Niebuhr/Ritterfeld 2003) und nicht erst mit dem Erlernen der Buchstaben und ihrer lautlichen Entsprechung oder mit der Entwicklung phonologischer Bewusstheit. Lesenlernen beginnt vielmehr mit dem Zuhören: wenn Kinder Gespräche verfolgen, wenn sie der Erzählung eines anderen lauschen (Andresen 2005, Ulich 2003) und wenn sie vorgelesen bekommen (Wieler 1998, Hurrelmann 2004).2

Die unterschiedlichen familiären Rahmenbedingungen nehmen gewichtigen Einfluss auf die Lesekompetenz der Kinder. Wobei Leseeinstellung und -verhalten der Eltern, Leseressourcen und Förderung im Bereich der Sprache und des Lesens im engeren Sinn, im  Elternhaus die wesentlichen Komponenten darstellen.3

Maria Montessori spricht vom absorbierenden Geist. Besonders hervorstechend bei diesem großen Experiment ist der Beweis, daß ein Kind unter sechs Jahren eine Geistesform besitzt, verschieden von der, die sich nach dem Alter von sechs oder sieben Jahren entwickelt, und sich deshalb von der des Erwachsenen unterscheidet. Bei den Allerkleinsten, bis zurück zum Zeitpunkt der Geburt, ist dieser Unterschied besonders stark betont. Wir nennen diese Form den absorbierenden Geist...

Die Kräfte des absorbierenden Geistes verschwimmen allmählich im Zug der fortschreitenden Organisation des bewußten Geistes. Auf jeden Fall bleiben sie während der Kindheit bestehen und ermöglichen, wie sich aus unseren weltweiten Versuchen ergibt ..., das Absorbieren der Kultur in einem über alle Maßen erstaunlichen Umfang.4

Jeder weiß, so mühelos und nebenbei lernt man nur als kleines Kind. Das Kleinstkind nimmt die Welt um sich unbewusst und ganzheitlich wie ein Schwamm auf. Die Atmosphäre, die im Elternhaus vorherrscht, prägt das Kind zutiefst. Folglich ist auch die Vermittlung der Lesefreude und Lesemotivation, sowie der Zugang zur Welt der Bücher stark im Elternhaus zu verankern. Das Umfeld, in das Kinder geboren werden, spielt eine große Rolle für spätere schulische Leistungen. Wie erreicht man aber nun Kinder, deren Eltern keine großen Leser sind? Wie kann man auch Kindern aus bildungsfernen Familien Bildungschancen eröffnen?

Gemeinsam lesen

Da die Entwicklung der Lesekompetenz schon sehr früh in der Kindheit beginnt, ist die Bildung im Kindergarten- und Vorschulbereich eine Möglichkeit, die Kinder in dieser Hinsicht zu unterstützen und so den Übergang zur Schule und den Alltag in der Schule erleichtern.  Gerade für Kinder, die in ihrem familiären Umfeld noch keine vielfältigen Erfahrungen mit der Lese-, Schrift- und Buchkultur machen konnten, stellt das Konzept des Dialogischen Lesens eine hervorragende Möglichkeit dar, vielschichtige Erfahrungen zu sammeln. Vorlesen gilt als eine der einfachsten und wichtigsten Möglichkeiten, den Leseerfolg von Kindern zu sichern. Der Begriff des dialogic readings wurde von Whitehurst et al. geprägt und charakterisiert eine bestimmte Art der Kommunikation zwischen der Bezugsperson und einem oder mehreren Kindern über ein Buch oder anderes visuell ansprechendes Material.5

 Dieses Dialogische Lesen unterscheidet sich vom klassischen Vorlesen in wesentlichen Punkten:
Der Erwachsene ist anfangs aktiv, nimmt sich aber immer mehr zurück.
Er stellt Fragen und gibt Impulse. Es handelt sich um eine ständige Interaktion zwischen dem Erwachsenen und dem Kind. Beiträge der Kinder sind dabei ausdrücklich erwünscht. Sie werden aufgegriffen, integriert und erweitert.

Dieses dialogische Lesen bedarf noch keiner unmittelbaren Lesefertigkeit. Auch Bilderbücher können von Kindern erlesen werden, sind doch auch Bilder nur Stellvertreter für die Wirklichkeit.  Dialogisches Lesen eignet sich für Elternhaus, Kindergarten, Lesepaten, Schule, ...

Am Beispiel Kufstein 

In Kufstein hat es sich die Literacy-Initative KUFSTEIN LIEST!, gegründet von Thomas und Brigitte Weninger, zur Aufgabe gemacht Eltern für dieses wichtige Thema zu sensibilisieren. Mit dem Projekt LESE.START möchte man bereits den Kleinsten ermöglichen, zu quietschvergnügten Lesebabys zu werden. Jedes Baby, das nach dem 1. Jänner 2011 geboren und in Kufstein gemeldet ist, erhält im ersten Lebensjahr ein LESE. START-Set mit einem ausgezeichneten Papp-Bilderbuch und Tipps zur frühen Sprach- und Leseförderung. Dieses Buch dürfen die Eltern in Weningers Buchladen fein.kost aus einer Reihe besonders empfehlenswerter Bücher aussuchen und gleich mitnehmen. Zusätzlich erhält die Familie Einladungen zu den regelmäßigen Eltern-Kind-Treffen und Info-Abenden. Die Teilnahme daran ist ebenfalls kostenlos.

Im zweiten Lebensjahr bekommt das Kind ein weiteres Bilderbuch und ein Abonnement für die Stadtbücherei Kufstein, damit es auch dieses wichtige Bildungsangebot kennenlernt und nutzen kann.

Der junge, engagierte Mann Thomas Weninger macht sich im Sommer, bepackt mit einem Rucksack voller Bücher, auf, um an  unterschiedlichsten Orten, wie Schwimmbäder oder Berggipfel, kleinen Kindern vorzulesen. So kommt das Buch zum Kind und die Eltern werden auf das Thema Lesen hingewiesen.

Die Rolle der Schulbibliothek

Weiters geht aus einer Untersuchung des bifies hervor, dass Kinder die wöchentlich von ihrer Klassenlehrerin in eine Bücherei geschickt werden höhere Leseleistungen zeigen, besonders jene Kinder, die zu Hause wenige Bücher besitzen.3 - an Schulen mit der Möglichkeit des Besuches einer Bibliothek also eine sehr einfache und wirksame Maßnahme zur Leseförderung.

In unserer Schule wurde eine Stille! Stille! Alles liest! - Stunde installiert. In dieser Stunde lesen alle, auch Lehrer in ihrer individuellen Lektüre. Auffällig für mich ist, wie begeistert diese unspektakuläre Stunde angenommen wird. Es ist interessant zu beobachten, wie die Kinder langsam zur Ruhe kommen und sich dann mehr und mehr im Buch vertiefen. Unsere Zeit ist manchmal wohl zu gehetzt und es braucht Zeitinseln, in denen Freiräume geschaffen werden.

Die Buben und das Lesen

Auch den unterschiedlichen Zugängen zwischen Buben und Mädchen ist Rechnung zu tragen. Hier sind die Väter besonders gefordert. Vor kurzem hat mir ein kleiner Vorfall zu denken gegeben. Eine Lehrerin des Lesekompetenzteams, die Mutter und (lobenswerterweise) auch der Vater des leseschwachen Kindes F. und ich saßen beisammen, um über Möglichkeiten der Förderung zu sprechen. F. ist ein richtiger Lesemuffel. Da fiel mir ein, welche Begeisterung F. immer entwickelt, wenn er über seinen Vater und die Feuerwehr spricht. Wer, glauben Sie, übt mit F. das Lesen und wer liest F. vor?

Wie viele Frauen sind in öffentlichen Büchereien als Mitglieder registriert und wie viele Männer? Lesen ist weiblich. Hier dreht sich eine Spirale und doch sollte Lesen für Jungs so cool sein wie die Feuerwehr.

Vielleicht wird von den Lehrern und Lehrerinnen der Zustand, dass Väter bei Elternabenden so gut wie nicht präsent sind zu sehr als gegeben hingenommen. Vielleicht sollten wir uns mehr darum bemühen, Väter anzusprechen und sie explizit einzuladen. Väter nehmen sich nicht nur, sondern werden oft aus der Pflicht genommen.

Unter dem Motto Männer unter sich wurde an unserer Schule heuer eine Lesestunde in der Bücherei nur für Buben und männliche Lehrpersonen abgehalten. Die Lehrer erzählten den Jungs, wie sie als Kind zum Lesen kamen und stellten ihre Lieblingsbücher aus Kindertagen vor. Kleine Impulse haben oft eine große Wirkung. Natürlich ist nicht immer alles unmittelbar messbar.

Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, wie in vielen Bereichen muss jeder seinen Weg, seine Art finden, Kinder in die Welt der Bücher zu locken. Eines ist jedoch klar: Je früher, desto besser!

1 (Stern, André: ...und ich war nie in der Schule, Geschichte eine glücklichen Kindes, Gütersloh, 4. Aufl., Zabert Sandmann Verl., 2009)

 

Hüttis-Graff:  Frühe Lesesozialisation und Hörmedien, Skizze eines Forschungsvorhabens am Übergang vom Elementar- zum Primarbereich, http://www.epb.uni-hamburg.de/files/Fr%C3%BChe%20Lesesozialisation%20und%20H%C3%B6rmedien%20Projektskizze%202007.pdf

3 (vgl. Wallner-Paschon, Christina, Schneider, Petra: Frühe Lesesozialistation in der         Familie, http://www.bifie.at/sites/default/files/veranstaltungen/2009-03-20_wallner-%09paschon-schneider.pdf, 2. 7. 2011
4 Montessori, Maria: Die Entdeckung des Kindes, Freiburg im Breisgau, 14. Aufl., 1998, Herder, S 357f
5  Grossauer, Katrin: Frühe Leseförderung - Dialogisches Lesen in: ÖBV Leagstenh!e Aktuell, Zeitschrift des Österreichischen Bundesverbbandes Legasthenie Ausgabe 2/2011, S 3f

Bildquelle: bilder.tibs.at (Education Group GmbH)



Quelle oder Autor/-in: Maria Holzmann (RE)

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