Literatur-Nobelpreis-Verleihung an Orhan Pamuk

Am Sonntag, den 10. Dezember 2006 wurde in Stockholm dem Schriftsteller Orhan Pamuk der Nobelpreis für Literatur verliehen. Er ist der erste türkische Autor, der die mit 1,1 Millionen Euro dotierte Auszeichnung erhalten hat.

Am 12. Oktober 2006 begründete die schwedische Akademie die Verleihung des Literatur-Nobelpreises 2006 an Orhan Pamuk mit den Worten:

Der Nobelpreis in Literatur des Jahres 2006 wird dem türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk verliehen "der auf der Suche nach der melancholischen Seele seiner Heimatstadt neue Sinnbilder für Streit und Verflechtung der Kulturen gefunden hat".
Nobelprize – Pressemitteilung: Der Nobelpreis in Literatur des Jahres 2006

Wer ist nun dieser Orhan Pamuk, der bereits im Vorfeld der Bekanntgabe des Literatur-Nobelpreises 2006 als Favorit des englischen Buchmachers Ladbrokes ins Rennen gegangen war, gefolgt von den renommierten Autoren Adonis, Ryszard Kapuscinski, Joyce Carol Oates und Philip Roth.

Kurzbiographie Orhan Pamuk

Geboren wurde der Sohn eines Diplom-Ingenieurs aus einer wohlhabenden, säkularisierten Familie am 7.6.1952 in Istanbul. Die ganze Familie unterstützte die prowestliche Linie Atatürks, sowohl in politischer als auch kultureller Hinsicht. Nach Abschluss seines Abiturs studierte Pamuk zunächst Architektur und wechselte dann zur Journalistik und besuchte zwischen 1985 - 1988 die Columbia University in New York und die University in Iowa.


Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk (links) im Interview mit dem Sekretär der Schwedischen Akademie Professor Horace Engdahl (rechts) am 6. Dezember 2006. Copyright © Nobel Web AB 2006, Photo: Hans Mehlin

 

Mit 23 Jahren, in einer politisch angespannten Zeit, als in der Türkei das Militär die Zügel fest in Händen hielt und die Polarisierung zwischen Links und Rechts ihren Höhepunkt erreicht hatte, beschloss Orhah Pamuk Schriftsteller zu werden:

Der einzige Grund für diesen Wandel lag wohl darin, dass ich damals überzeugt war, Schreiben sei die Möglichkeit, mit Worten die Stimme zu erheben, Malerei hingegen bedeute Stummheit, und ich war geistig nicht so weit, diese Stummheit in Würde auszuhalten.
Wikipedia: Orhan Pamuk

Im Zentrum seines Schreibens steht die Großstadt Istanbul, die er bis auf seinen USA-Aufenthalt nie für längere Zeit verlassen hat. "Istanbuls Schicksal ist mein Schicksal. Ich fühle mich dieser Stadt verbunden, weil sie mich zu dem gemacht hat, der ich bin."

In seinem Werk spiegelt sich die Auseinandersetzung der türkischen Gesellschaft und Identität zwischen europäischem und orientalischem Leben wider.

Sein erster in deutscher Sprache erschienene Roman Die weiße Festung (1990) erzählt von den Abenteuern eines jungen Venezianers, der bei einem Seegefecht in die Hände der Türken gerät. Als Sklave eines Hodschas, der am osmanischen Hofe eine Rolle spielt, und dem Ich-Erzähler auf verblüffende Weise ähnlich sieht, verstrickt er sich in eine Herr-und-Knecht-Beziehung, in der sich die beiden Kontrahenten immer ähnlicher werden. Die erweckten Erwartungen über das orientalische Leben und Denken werden im Laufe des Romans schließlich ad absurdum geführt. Erfolgreich waren auch die Romane Das Neue Leben, Das schwarze Buch, Schnee, Der Blick aus meinem Fenster und Rot ist mein Name. Zuletzt erschien sein Erzählband Istanbul, in dem er seiner Heimatstadt ein literarisches Denkmal setzt.

Für Aufregung sorgten in der Türkei Orhan Pamuks politischen Stellungnahmen. So war er der erste Autor der muslischen Welt, der die gegen Salman Rushdie ausgesprochene Fatwa verurteilt hat. Er kritisierte auch die Zusammenarbeit der Türkei mit den USA im Kampf gegen den Terrorismus. Am meisten Aufsehen erregte Pamuk in der Türkei aber, als er auf die massenhafte Ermordung von Armeniern während des 1. Weltkriegs hinwies, die von der Türkei bis heute geleugnet wird. Die Freude über die Verleihung des Literatur-Nobelpreises auf Orhan Pamuk hielt sich in der Türkei daher in Grenzen.

In einer am Montag von der Zeitung "Milliyet" veröffentlichten Umfrage vertraten 40 Prozent die Ansicht, der Autor habe den Preis "aus politischen Gründen" erhalten und deshalb nicht verdient. Nur rund 20 Prozent waren gegenteiliger Meinung. Weitere 40 Prozent äußerten sich nicht. Pamuk ist in der Türkei umstritten, weil er von einem Massenmord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg gesprochen hatte. Nur etwa jeder Vierte gab an, er habe sich über den Nobelpreis für Pamuk "gefreut".
Der Standard: Viele Türken halten Nobelpreis für Pamuk für "unverdient"

 


Die weisse Festung (1990), Das schwarze Buch (1995) und Das neue Leben (1998) sind Pamuks erste Romane die auf deutsch erschienen sind.

 

Orhan Pamuk hatte bereits im Vorfeld angekündigt, seine Nobelpreisrede nicht als polische Rede gestalten zu wollen und so stellte er am Sonntag bewusst das Schreiben und seinen Weg zum Schreiben in den Mittelpunkt seiner Ansprache anlässlich der Überreichung des Literaturnobelpreise:

[...] Schreiben bedeutet, dass man die innere Einkehr in Worte fasst, dass man aus sich heraus voller Geduld, Hartnäckigkeit und Freude an einer neuen Welt arbeitet. Wenn ich am Tisch sitze und auf eine leere Seite nach und nach Wort um Wort schreibe und darüber Tage, Monate, Jahre vergehen, dann fühle ich, dass ich eine neue Welt erstehen lasse und einen anderen Mensch aus mir heraushole, so wie man Stein auf Stein eine Brücke oder eine Kuppel baut. Der Stein des Schriftstellers ist das Wort. Wir nehmen das Wort in die Hand, befühlen es, setzen es mit anderen Wörtern in Zusammenhang, betrachten es manchmal aus der Ferne, fahren mit dem Finger oder dem Stift gleichsam streichelnd oder abwägend darüber, dann setzen wir es an seinen Platz, zäh, geduldig, hoffnungsfroh, über Jahre hinweg, neue Sphären erschaffend.

[...] Schreiben bedeutet ferner, etwas auszudrücken, was jeder weiß, ohne zu wissen, dass er es weiß. Wir entdecken dieses Wissen, entwickeln es weiter, teilen es mit anderen und vermitteln damit dem Leser den Genuss, sich in einer wohlvertrauten Welt dennoch voller Erstaunen zu bewegen. Diesen Genuss bezieht der Leser aus unserem Talent, alles, was wir wissen, in seiner ganzen Wahrhaftigkeit in einen Text zu gießen.

[...] Was die Literatur heute in erster Linie erzählen und erforschen sollte, das ist der Menschheit grundsätzliches Problem, nämlich Minderwertigkeitsgefühle, die Furcht, ausgeschlossen und unbedeutend zu sein, verletzter Nationalstolz, Empfindlichkeiten, verschiedenste Arten von Groll und grundsätzlichem Argwohn, nicht enden wollende Erniedrigungsphantasien und damit einhergehend nationalistische Prahlerei und Überheblichkeit.

[...] Ich schreibe, weil das Leben, weil die Welt, weil einfach alles unglaublich schön und überraschend ist. Ich schreibe, weil es Freude macht, diese Schönheit und diesen Reichtum in Worte zu fassen. Ich schreibe, weil ich eine Geschichte nicht erzählen, sondern erschaffen will. Ich schreibe, um das Gefühl loszuwerden, dass es irgendwo einen Ort gibt, an den ich – wie in einem Traum – niemals gelangen kann. Ich schreibe, weil ich nicht glücklich sein kann. Ich schreibe, um glücklich zu sein.
Nobelpreis-Rede: Orhan Pamuk - © DIE NOBELSTIFTUNG 2006


Großen Erfolg hatte Orhan Pamuk mit seinen Romanen Rot ist mein Name (2001), Schnee (2005) und Der Blick aus meinem Fenster (2006). Im November wurden sein  Erzählband Istanbul - Erinnerungen an eine Stadt (2006) veröffentlicht.

 

Von Orhan Pamuks Werk ist bisher auf deutsch erschienen:

 

Weiterführende Links:

 

Andreas Markt-Huter, 14-12-2006

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