Die Hunger leiden und nach Wissen dürsten

Am Sonntag den 7. Dezember wurde der Nobelpreis für Literatur des Jahres 2008 an den 68-jährigen französische Schriftsteller Jean-Marie Gustave Le Clézio vergeben. In einer beeindruckenden Ansprache forderte er die Alphabetisierung und den Kampf gegen den Hunger als vordringlichste Aufgabe der Menschheit ein.

Die schwedische Akademie schrieb in der Begründung für ihre Entscheidung zum Literaturnobelpreis 2008:

Der Nobelpreis in Literatur des Jahres 2008 wird dem französischen Schriftsteller Jean-Marie Gustave Le Clézio verliehen, dem Verfasser des Aufbruchs, des poetischen Abenteuers und der sinnlichen Ekstase, dem Erforscher einer Menschlichkeit außerhalb und unterhalb der herrschenden Zivilisation.
© DIE NOBELSTIFTUNG 2008

Die Begründung weist bereits auf seine bewegte Biographie. Clézio wurde am 13. April 1940 in Nizza geboren und zog im Alter von acht Jahren mit seiner Familie nach Nigeria, wo sein Vater während des 2. Weltkrieges als Arzt tätig war. Auf der Monate andauernden Schiffsreise unternahm Clézio seine ersten Schreibversuche als Schriftsteller und verfasste zwei kleine Bücher. In Nigeria wurde er mit der englischen Sprache vertraut bis seine Familie 1950 wieder nach Nizza zurückkehrte. An den Universitäten Bristol und London studierte er zwischen 1958 - 1961 Englisch und später an den Universitäten in Nizza, Aix-en-Provence und Perpignan, wo er 1983 doktorierte. Er selbst hat u.a. an den Universitäten in Bangkok, Mexiko City, Boston, Austin und Albuquerque unterrichtet.


Zahlreiche Romane J. M. G. Le Clézios setzen sich mit fremden Kulturen auseinander, mit denen er und seine Familie im Laufe ihres Lebens verbunden waren.

 

Beeinflusst durch den französischen Existentialismus verfasste er seinen ersten Roman Das Protokoll (1965; Le procès verbal 1963). Es folgten: Das Fieber (1971; Le fièvre 1965) und Die Sintflut (1968; Le déluge 1966). Sein ökologisches Engagement zeigte Clézio besonders in den Romanen Terra amata (1970; frz. 1967), Der Krieg (1972; La guerre 1970) und Les géants (1973). Für seinen Roman Wüste (1989; Désert 1989) wurde er von der Französischen Akademie ausgezeichnet.

Clézio hat sich in seinen Schriften aber auch intensiv für außereuropäische Kulturen interessiert und sich dazu mehrere Jahre in Mexiko und Zentralamerika aufgehalten. Abseits der Städte hat er im Kontakt mit den Indianern versucht sich neue geistige Realitäten zu eröffnen. Seine dabei gewonnenen Erfahrungen verarbeitete er 1975 in dem Buch Voyage de lautre cote. In Zentralamerika lernte er auch die Marokkanerin Jemia, die er im selben Jahr heiratete. Seit den 90-iger Jahren leben die beiden abwechselnd in Albuquerque in Neumexiko, auf Mauritius und in Nizza.

In seinen späteren Schriften setzt sich Clézion vor allem der eigenen Geschichte und der Geschichte seiner Familie auseinander, wie in seinen Romanen Onitsha (1993; frz. 1991), Ein Ort fernab der Welt (2000, La quarantaine 1995), Revolutionen (2006; Révolutions 2003) und Der Afrikaner (2007; LAfricain 2004). Clézios zuletzt veröffentlichtes Buch, Ballaciner (2007) ist ein sehr persönlicher Essay über die Geschichte der Filmkunst und über die Bedeutung des Films in seinem Leben. Sein neuestes Werk Ritournelle de la faim wird noch im Dezember 2008 in französisch erscheinen. Clézio hat neben seinem literarischen Werk auch zahlreiche Bücher für Kinder und Jugendliche verfasst.


In seinen späteren Romanen treten Clézios eigene Lebenserinnerungen und die Geschichte seiner Familie in den Vordergrund.

Ganz an den Beginn seiner Nobelpreisrede Im Wald der Paradoxe, die er am 7. Dezember in Stockholm hielt, stellte Clézio die provokante Frage:

 

Warum schreibt man? Ich nehme an, dass jeder eine Antwort auf diese einfache Frage hat. Die Veranlagung, das Milieu, die Umstände spielen dabei eine Rolle. Auch die Dinge zu denen man nicht fähig ist. Wenn man schreibt, bedeutet das, dass man nicht handelt. Dass man eine gewisse Schwierigkeit angesichts der Realität empfindet und sich daher für eine andere Art der Reaktion entscheidet, für eine andere Form der Kommunikation, für eine gewisse Distanz, für eine Zeit der Überlegung.
© DIE NOBELSTIFTUNG 2008

 

Für ihn selbst sei der Krieg die Ursache gewesen, weshalb er mit dem Schreiben begonnen habe. In dieser Zeit der Zurückgezogenheit, als es für ihn als Kind kaum möglich gewesen wäre, draußen zu spielen, seien ihm durch die Lexika seiner Großmutter, aber auch durch ihre Erzählungen die wunderbaren Tore der Welt eröffnet worden.

 

Außerdem war meine Großmutter mütterlicherseits eine ausgezeichnete Erzählerin, die uns an den langen Nachmittagen Geschichten erzählte. Ihre Märchen waren immer sehr phantasievoll und spielten in einem Wald - vielleicht in Afrika oder im Wald von Macchabée auf Mauritius - und die Hauptperson war ein pfiffiger Affe, der es verstand, sogar mit der gefährlichsten Situation fertig zu werden.
© DIE NOBELSTIFTUNG 2008

 

Bücher hätten erst  hätten erst später eine wichtige Rolle in seinem Leben eingenommen, als sein Vater mehrere Buchbestände habe retten können.

 

Und da habe ich die Wahrheit begriffen, die Kindern nicht sofort klar wird, nämlich dass Bücher einen viel kostbareren Schatz darstellen als Immobilien oder Bankkonten. In diesen zumeist alten, in Leder gebundenen Büchern habe ich die großen Texte der Weltliteratur entdeckt [...].


Und da habe ich die Wahrheit begriffen, die Kindern nicht sofort klar wird, nämlich dass Bücher einen viel kostbareren Schatz darstellen als Immobilien oder Bankkonten. © DIE NOBELSTIFTUNG 2008

In dem langweiligen Leben einer kleinen sonnigen, verschlafenen Provinzstadt haben diese Bücher nach den Jahren der Freiheit in Afrika meine Abenteuerlust geweckt und mir erlaubt, die Größe der realen Welt zu ermessen, sie mit dem Instinkt und den Sinnen zu erforschen anstatt mit Hilfe des Wissens. Auf gewisse Weise haben sie mir sehr früh erlaubt, die widersprüchliche Natur des Lebens eines Kindes zu empfinden, das sich einen Zufluchtsort bewahrt, wo es Gewalt und Konkurrenzkampf vergessen und sich daran erfreuen kann, das Leben draußen durch ein Fenster seines Zimmers zu betrachten.
© DIE NOBELSTIFTUNG 2008

 

Als Schriftsteller habe ihn besonders der schwedische Journalist und Schriftsteller Stig Dagerman und sein Buch Essays und Texte angezogen.

 

Ein Satz hat mein Interesse besonders geweckt, ich hatte das Gefühl, als richte er sich genau in diesem Augenblick an mich - nachdem ich gerade einen Roman mit dem Titel Ritournelle de la Faim veröffentlicht hatte. Dieser Satz oder, genauer gesagt, diese Passage lautet so:

Wie ist es zum Beispiel möglich, dass man sich einerseits so verhält, als gäbe es nichts auf der Welt, was wichtiger sei als die Literatur, während es andererseits unmöglich ist, die Augen davor zu verschließen, dass andernorts die Menschen mit dem Hunger kämpfen und gezwungen sind, das Wichtigste darin zu sehen, was sie am Ende des Monats verdienen? Denn er (der Schriftsteller) stößt auf ein neues Paradox: Er, der eigentlich nur für jene schreiben möchte, die Hunger leiden, muss entdecken, dass nur diejenigen, die genug zu essen haben, die Muße haben, seine Existenz wahrzunehmen. (Der Schriftsteller und das Bewusstsein)

Dieser Wald der Paradoxe, wie Stig Dagerman es nennt, ist der Bereich des Schreibens, der Ort, von dem der Künstler nicht versuchen darf zu fliehen, sondern wo er im Gegenteil sein Zelt aufschlagen muss, um jede Einzelheit zu erkennen, jeden Weg zu erforschen und jeden Baum zu benennen. Es ist nicht immer ein angenehmer Aufenthalt. Der Autor, der sich in Sicherheit glaubt, die Autorin, die sich ihrer Manuskriptseite wie einer engen, nachsichtigen Freundin anvertraut, sind plötzlich mit der Wirklichkeit konfrontiert und zwar nicht nur als Beobachter sondern als Handelnde. Sie müssen Partei ergreifen, Abstand nehmen.
© DIE NOBELSTIFTUNG 2008


Der Schriftsteller stößt auf ein neues Paradox: Er, der eigentlich nur für jene schreiben möchte, die Hunger leiden, muss entdecken, dass nur diejenigen, die genug zu essen haben, die Muße haben, seine Existenz wahrzunehmen. © DIE NOBELSTIFTUNG 2008

 

Es sei paradox, dass der sozial engagierte Schriftsteller jene nicht erreiche, für die er Schreiben wolle:

Die Tatsache, dass die Literatur der Luxus einer herrschenden Klasse ist und sich von Vorstellungen und Bildern nährt, die der Mehrzahl der Menschheit fremd sind, ruft ein Unbehagen hervor, das jeder von uns empfindet - damit meine ich jene, die lesen und schreiben. Man könnte versucht sein, diese Botschaft jenen zu bringen, die davon ausgeschlossen sind, und sie großzügig zum Bankett der Kultur einzuladen. Warum ist das so schwer? Die schriftlosen Völker, wie die Anthropologen sie so gern nennen, haben es geschafft, mit Hilfe von Gesängen und Mythen eine alles umfassende Kommunikation zu erfinden. Warum ist das heute in unseren Industrienationen unmöglich geworden? Muss die Kultur neu erfunden werden?

[...] Das Paradox der Revolution sowie der epische Ritt des Ritters von der traurigen Gestalt leben im Bewusstsein jedes Schriftstellers fort. Wenn seine Feder eine unerlässliche Tugend besitzt, dann jene, dass sie nie zum Lob der Mächtigen dienen darf, und sei es auch nur ein leichtes Kitzeln. Doch selbst wenn der Künstler diese Tugend respektiert, darf er sich nicht von jedem Verdacht rein gewaschen fühlen.

Seine Auflehnung, seine Weigerung, seine Verwünschungen bleiben immer auf derselben Seite der Barriere: auf Seiten der Sprache der Mächtigen. Ein paar Worte, ein paar Sätze mögen entkommen. Aber der Rest? Ein langes Palimpsest, eine elegante, distanzierte Ausflucht. Und manchmal etwas Humor, der nicht die Höflichkeit der Verzweiflung, sondern die Hoffnungslosigkeit der Unvollkommenen ist, der Strand, auf dem die tosende Strömung der Ungerechtigkeit sie zurücklässt.
© DIE NOBELSTIFTUNG 2008


Wenn die Feder des Schriftstellers eine unerlässliche Tugend besitzt, dann jene, dass sie nie zum Lob der Mächtigen dienen darf, und sei es auch nur ein leichtes Kitzeln. © DIE NOBELSTIFTUNG 2008

 

Für Clézio nennt zwei Gründe des Schriftstellers zu schreiben. Zunächst seien Schriftsteller die Hüter ihrer Sprache:

Der Schriftsteller, der Poet, der Romancier sind Schöpfer. Das soll nicht etwa heißen, dass sie die Sprache erfinden, sondern dass sie die Sprache benutzen, um damit Schönheit, Gedanken und Bilder zu schaffen. Deshalb kann man nicht auf sie verzichten. Die Sprache ist die hervorragendste Erfindung der Menschheit, sie geht allem voraus, hat an allem teil. Ohne die Sprache gäbe es keine Wissenschaft, keine Technik, keine Gesetze, keine Kunst und keine Liebe. Aber diese Erfindung wird ohne den Beitrag der Sprecher zu etwas Virtuellem. Sie kann verkümmern, verarmen, verschwinden. Die Schriftsteller sind in gewissem Maße deren Hüter.
© DIE NOBELSTIFTUNG 2008

 

Eine weitere Bedeutung der Literatur liege darin, die Kultur auf weltweiter Ebene zugänglich zu machen:

Wir leben, wie es scheint, im Zeitalter des Internets und der virtuellen Kommunikation. Das ist gut so, aber was nützen diese erstaunlichen Erfindungen, wenn darüber der Unterricht der Schriftsprache und die Bücher vernachlässigt werden? Die Mehrzahl der Menschheit mit Flüssigkristallbildschirmen auszustatten, ist eine Utopie. Sind wir daher nicht dabei, eine neue Elite zu schaffen und eine neue Grenzlinie zu ziehen, die die Welt einteilt in jene, die Zugang zur Kommunikation und zum Wissen haben und jene, die davon ausgeschlossen bleiben? Große Völker, große Zivilisationen sind verschwunden, weil sie das nicht begriffen hatten. [...]

Man kann nicht die Achtung vor dem Anderen und die Gleichheit Aller zum Prinzip erheben, ohne jedem Kind die Möglichkeit zu bieten, die Schrift zu erlernen.
[...] Heute, nach der Dekolonisation, ist die Literatur eines der Mittel für die Männer und Frauen unserer Epoche, ihre Identität auszudrücken, ihr Mitspracherecht zu fordern und sich in ihrer Vielfalt Gehör zu verschaffen. Ohne ihre Stimmen, ohne ihren Aufruf würden wir in einer stummen Welt leben.

Die Kultur auf weltweiter Ebene geht uns alle an. Aber sie hängt vor allem von den Lesern ab, genauer gesagt von den Verlegern. [...] Die Kultur ist, wie ich schon sagte, ein gemeinsames Gut der gesamten Menschheit. Aber damit das wirklich zum Tragen kommt, müsste jeder über dieselben Mittel verfügen, um Zugang zur Kultur zu haben. Und dafür ist das Buch mit seinem archaischen Charakter das ideale Werkzeug. [...]


Man kann nicht die Achtung vor dem Anderen und die Gleichheit Aller zum Prinzip erheben, ohne jedem Kind die Möglichkeit zu bieten, die Schrift zu erlernen. © DIE NOBELSTIFTUNG 2008

In Afrika, in Südostasien, in Mexiko, in Ozeanien sind Bücher noch immer ein unerreichbarer Luxus. Dagegen gibt es mehrere Mittel. Die Koedition mit Verlagen der Entwicklungsländer, die Schaffung eines Fonds für Leihbibliotheken oder Bücherbusse und ganz allgemein eine größere Aufmerksamkeit für die Belange und die Manuskripte in den so genannten Minderheitssprachen - deren Sprecher zahlenmäßig manchmal durchaus mehrheitlich sind - würden der Literatur erlauben, weiterhin jenes wunderbare Mittel zu bleiben, sich selbst zu erkennen, den Anderen zu entdecken und das Konzert der Menschheit mit all dem Reichtum seiner Themen und Modulationen zu hören.
© DIE NOBELSTIFTUNG 2008

 

Clézio sieht abschließend im Kampf gegen den Hunger und in der Alphabetisierung die größte Herausforderung der Menschheit. Er widme seinen Preis allen Schriftstellern, die ihn in seinem Leben begleitet hätten aber auch dem

unbekannten Kind, dem ich eines Tages am Ufer des Tuira-Flusses im Regenwald des Darién begegnet bin. Es saß nachts auf dem Bretterboden eines kleinen Ladens und las im Licht einer Petroleumlampe ein Buch und schrieb vornüber gebeugt, ohne auf seine Umgebung zu achten [...] Es ruft uns die beiden großen Notwendigkeiten der menschlichen Geschichte in Erinnerung, auf die wir leider noch lange keine befriedigende Antwort gegeben haben: die Ausmerzung des Hungers und die Alphabetisierung.

In seiner zutiefst pessimistischen Feststellung über das grundlegende Paradox des Schriftstellers, und zwar seine Unzufriedenheit darüber, dass er sich nicht an jene wenden kann, die - im wörtlichen Sinne - Hunger leiden und nach Wissen dürsten, bringt Stig Dagerman eine fundamentale Wahrheit zur Sprache. Die Alphabetisierung und der Kampf gegen den Hunger sind eng miteinander verbunden, hängen voneinander ab. Der Erfolg des einen ist ohne den Erfolg des anderen unmöglich. Beide verlangen heute von uns, dass wir handeln.
© DIE NOBELSTIFTUNG 2008


Die Alphabetisierung und der Kampf gegen den Hunger sind eng miteinander verbunden, hängen voneinander ab. Der Erfolg des einen ist ohne den Erfolg des anderen unmöglich. Beide verlangen heute von uns, dass wir handeln. © DIE NOBELSTIFTUNG 2008

 

Auf deutsch erschienene Romane Jean-Marie Gustave Le Clézios

 

Weiterführende Links:
Wikipedia: Jean-Marie Gustave Le Clézio

 

Andreas Markt-Huter, 12-12-2008

Redaktionsbereiche

Lesen