Geschichte aus Zeitungen - 1925: Stephan Großmanns Rezension zu Mein Kampf

Die Ankündigung eine wissenschaftlich kommentierte Neuauflage von Adolf Hitlers Buch „Mein Kampf“ zu veröffentlichen, sorgte bereits im Vorfeld für aufgeregte Diskussionen. Nach Ablauf der Urheberrechte auf das Machwerk, war die Erstauflage bereits vor dem Tag des Erscheinens vergriffen.

Schon im Jahr 1925 sorgte das Buch für Aufsehen, wobei die Rezension des österreichischen Journalisten Stephan Großmann in seiner Scharfsicht und Klarheit auch heute noch zu beeindrucken vermag. Bei ihrer Lektüre wird Geschichte auf nahezu beängstigende Weise wieder lebendig.

Seit dem 1. Jänner 2016 sind die Urheberrechte zu Hitlers Buch „Mein Kampf“ verfallen. Bereits am 8. Jänner 2016 erschien eine kommentierte Ausgabe von „Mein Kampf“ in einer Auflage von 4.000 Stück, die schon am Tag der Veröffentlichung vergriffen war, lagen doch 15.000 Vorbestellungen vor.

Herausgegeben wurde das 1966 Seiten umfassende Buch „Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition“ in zwei Bänden von den Historikern Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger und Roman Töppel.

Zum Buch heißt es:

„Mehr als zwölf Millionen Mal wurde Adolf Hitlers Propagandaschrift »Mein Kampf« bis 1945 gedruckt und unters Volk gebracht. Seither war jegliche Neuauflage untersagt. Erstmals, 70 Jahre nach dem Tod Hitlers, veröffentlicht das Institut für Zeitgeschichte eine wissenschaftlich kommentierte Gesamtausgabe dieses berüchtigten Buches.

»Mein Kampf« ist Hitlers wichtigste politische Schrift. Sie ist gleichermaßen stilisierte Autobiografie, ideologisches Programm, Parteigeschichte, Hetzschrift und Anleitung zur Erringung der Macht, weit über Deutschland hinaus. Nirgendwo sonst hat Hitler das, was er glaubte und wollte, so offen und detailliert erläutert wie hier. »Mein Kampf« ist damit eine der zentralen Quellen des Nationalsozialismus. Die kritische Edition des Instituts für Zeitgeschichte bereitet diese Quelle umfassend auf: Sie ordnet die historischen Fakten ein, erklärt den Entstehungskontext, legt Hitlers gedankliche Vorläufer offen und kontrastiert seine Ideen und Behauptungen mit den Ergebnissen der modernen Forschung. Nicht zuletzt zeigt die Edition auf, wie Hitlers Ideologie nach 1933 die verbrecherische Politik des NS-Regimes prägte. »Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition« setzt auf historisch-politische Aufklärung und wendet sich in Form und Stil deshalb bewusst an einen breiten Leserkreis.“
Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

Der erste Band von „Mein Kampf“ entstand während Hitlers Haftzeit im Jahr 1924 und wurde erstmals am 18. Juli 1925 veröffentlicht und in der Weimarer Republik zu einem viel diskutierten Bestseller. Die Veröffentlichung des zweiten Band folgte am 11. Dezember 1926.

Am 1. November 1925 wurde in der Wiener Tageszeitung „Neue Freie Presse“ eine Rezension des in Berlin lebenden österreichischen Journalisten, Autors und Herausgebers der radikaldemokratischen politischen Wochenschrift „Das Tage-Buch“ Stephan Großmann veröffentlicht, in der sich der Autor mit Adolf Hitler und seinem ein paar Monate zuvor erschienen Buch „Mein Kampf“ kritisch auseinandersetzte. Kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ließen diese Stephan Großmann im März 1933 verhaften, aber aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes des Landes verwiesen. Er kehrte nach Wien zurück, wo er am 3. Jänner 1935 starb.

Rückblickend erstaunt es, wie treffsicher es Großmann gelang, das Lügengebäude, die Selbstbeweihräucherung und den politischen Irrsinn in Hitlers Schrift zu analysieren, bloßzustellen und sichtbar zu machen. Ebenso erstaunlich ist aber auch sein großer historischer Irrtum, den Nationalsozialismus nach dem fehlgeschlagenen Putschversuch der Nationalsozialisten in München im November 1923 bereits am Ende zu glauben.

 


Quelle: ANNO - Stefan Großmann, Hitlers Memoiren. Neue Freie Presse, Nr. 21959, 1. November 1925, S. 8

"Das letzte Kapitel bringt die Schilderung der ersten großen Versammlung, die Hitler im Münchner Hofbräu abgehalten hat, in demselben Saal, in dem am 7. November 1923 die Seifenblase dieser hysterischen Nationalbewegung zerplatzt ist." (S. 8)

 

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Anhand der digitalisierten Originalausgabe der „Neuen Freien Presse“ vom 1. November der Österreichischen Nationalbibliothek, die unter ANNO Zeitungen abrufbar ist, sollen im Folgenden zentrale Aussagen der Rezension von Stephan Großmann auch transkribiert und in neuer deutscher Rechtschreibung wiedergegeben werden.

Die Zeitungen der 1. Republik verwendeten die damals gängigen Frakturschrift, bei der es sich um eine Druckschrift handelt, die im deutschen Sprachraum vom 16. Jahrhundert bis ca. 1940 in unterschiedlichen Varianten verwendet wurde. Entwickelt hat sich die Schrift aus der seit dem 12. Jahrhundert verwendeten gotischen Buchschrift.

Mit ein wenig Übung lässt sich die ungewohnte Schrift relativ rasch lesen und die Dokumente erwecken die Stimmung, das Denken und die Sprache der damaligen Zeit wieder zum Leben. Das im Bild vorgestellte Alphabet in Frakturschrift soll beim Einstieg in das Lesen historischer Dokumente behilflich sein.

 


Viele Buchstaben der Fraktura-Schrift sind den lateinischen Buchstaben sehr ähnlich. Beachten sollte man den kleinen Unterschied zwischen dem kleinen f und dem langen s (rechts neben dem kleinen s). Beim f ist der Querstrich ein wenig links und vor allem rechts, beim langen s hingegen nur links.

 

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Quelle: ANNO - Stefan Großmann, Hitlers Memoiren. Neue Freie Presse, Nr. 21959, 1. November 1925, S. 8

"Wer vor zwei Jahren in München war, weiß, dass diese schöne, einst auch liebenswürdige Stadt damals berauscht oder vielmehr besoffen von einem jungen Mann war, von Adolf Hitler. Fast im Handumdrehen war dem jungen Oberösterreicher die Gründung einer münchnerischen Partei gelungen, im Handumdrehen hatte er sein eigenes, wenigsten im äußeren Format großes Blatt, die Minister zitterten vor ihm, der Polizeipräsident wurde sein Anhänger und auf den Straßen wimmelte es Jünglingen, die sich in einer soldatenähnlichen Tracht als seine Anhänger demonstrativ bekannten. … die Herrlichkeit ist heute schon wieder dahin, die große Partei hat sich halb und halb verlaufen, kein Minister zittert mehr, der Polizeipräsident von München ist wieder ein nüchterner Beamter und nur ein bisschen Zauber der Montur, Windjackenmode, ist übrig geblieben."

 


Quelle: ANNO - Stefan Großmann, Hitlers Memoiren. Neue Freie Presse, Nr. 21959, 1. November 1925, S. 8

"Ich habe Herrn Adolf Hitler, den Helden dieses kurzen Massenrausches, in München gesehen und sprechen gehört, aufrichtig gesagt, ohne auch nur einen Augenblick die Entstehung dieses Massenwahns zu begreifen. Hitler ist ein unansehnlicher, kaum mittelgroßer Mensch, sein hervorstechendstes Merkmal sind die offenbar nicht ganz gesunden, in der Erregung fast herauskugelnden Augen, die auf Basedowsche Krankheit schließen lassen. Als Redner ist er von einer bodenlosen Trivialität, er hat nicht einen Funken Humor, nicht ein bisschen Talent zur Antithese oder zur Pointe, sein Pathos, das stundenlang dauert, ist nicht gegliedert und nicht aufgebaut. Er hat nur eines, und das wird wohl die Ursache seiner Augenblickswirkung gewesen sein, er ist einer von den besoffenen Soldaten, die noch immer nicht Frieden geschlossen haben, und diese Hysterie des armen Teufels, der immer noch irgendwie im Schützengraben liegt, hat unzweifelhaft ansteckende Wirkung gehabt. Im Ganzen ist der junge Mensch, der weder besondere natürliche Gaben, noch außergewöhnliches Wissen besitzt, von einem pathologischen Ichgefühl beherrscht, das ja das Merkmal so vieler Minderwertiger ist."

 


Quelle: ANNO - Stefan Großmann, Hitlers Memoiren. Neue Freie Presse, Nr. 21959, 1. November 1925, S. 8

"[…] Hitler nennt sein Buch „Eine Abrechnung“, aber wenn nur ein bisschen seelisches Leben in ihm flackerte, so hätte er – nach dem Zusammenbruch seiner Bewegung – vor allem mit sich selbst abrechnen müssen. Er verschwendet keinen Blick in die eigene Brust, er gibt die Geschichte seines Lebens und rechnet mit allen möglichen Politikern ab, nur nicht mit sich selbst. Spricht er von sich, so ist er nur bemüht, sich zu romantisieren. Er setzt sich jeden Augenblick einen romantischen „Künstlerhut“ auf, er vergoldet sich selbst und vertuscht die Realitäten seines Lebens, um sich interessant zu machen."

 


Quelle: ANNO - Stefan Großmann, Hitlers Memoiren. Neue Freie Presse, Nr. 21959, 1. November 1925, S. 8

"[…] Einmal schreibt er: „Ich las damals unendlich viel und gründlich“, aber er nennt nicht ein einziges Buch, das Eindruck auf ihn gemacht hat, und für den einsamen Jüngling hätte ein solches zufällig in den Weg geschleudertes Buch ein Schicksal bedeuten können. Ein paar Seiten weiter schreibt Adolf Hitler über diese Zeit: „Ich war abends todmüde, unfähig, in ein Buch zu sehen, ohne einzunicken.“ Von den beiden Darstellungen wird wohl die zweite die wahrscheinlichere sein. Es setzt den jungen Bauarbeiter gar nicht herab, dass er nie zum Bücher-, höchsten zum Zeitunglesen gekommen ist, seine Müdigkeit war wohlverdient. Es wird auch stimmen, wenn Hitler heute schreibt: „In wenigen Jahren schuf ich mir die Grundlagen meines Wissens, von denen ich noch heute zehre.“ Dieses Wissen ist eben nur reines Zeitungswissen."

 


Quelle: ANNO - Stefan Großmann, Hitlers Memoiren. Neue Freie Presse, Nr. 21959, 1. November 1925, S. 8

"[…] Übrigens gibt Hitler seine Wahrnehmungen über Wien in sehr pathetischer Form zum Besten. Es entging ihm nicht, dass in Wien neben Deutschen auch Tschechen, Ungarn, Polen, Italiener lebten und deshalb schreibt er: „Mir erschien die Riesenstadt als die Verkörperung der Blutschande.“ Bums, da liegt das Wort. Es ist für Hitlers gedankenlose Pathetik charakteristisch. Blutschande nennt man den Umgang zwischen Geschwistern oder Verwandten. Hitler aber, als Rassenfanatiker, dürfte Slawen, Romanen oder Juden doch nicht als Bruder und Schwester ansehen. Er musste logischerweise den Wienern nun den umgekehrten Vorwurf machen, dass sie sich nämlich fremde Völker assimilieren. Das knallende Wort „Blutschande“ ist also an dieser Stelle krasser Unsinn. Aber es kommt Hitler, wenn er einmal ins rollende Pathos gerät, auf ein bisschen mehr oder weniger pathetischen Stumpfsinn nicht an. In einem Kapitel, das die Beziehungen zwischen „Marxismus und Natur“ darstellen will, schreibt Hitler wörtlich: „Siegt der Jude mit Hilfe seines materialistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Erde, dann wird seine Krone der Totenkranz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wieder wie einst vor Jahrtausenden menschenleer durch den Äther ziehen.“ Das nenne ich eine metaphysische Phantasie! … Liest man solche Stellen, so steigen leichte Zweifel an der geistigen Intaktheit des Memoirenschreibers auf. Wenn er als Ziel des Marxismus „die Vernichtung aller nichtjüdischen Nationalstaaten“ angibt, also, da es noch keinen jüdischen Nationalstaat gibt, die Vernichtung des Planeten, und wenn man merkt, mit welchem Ingrimm Hitler diese Wahnvorstellung wiederholt, dann ist man geneigt, den Fall dem benachbarten Professor Krögelin abzutreten."

 


Quelle: ANNO - Stefan Großmann, Hitlers Memoiren. Neue Freie Presse, Nr. 21959, 1. November 1925, S. 8

"[…] Klappt man dieses dicke und doch armselige Buch zu, so fragt man sich, wie es möglich war, dass ein besessener Psychopath, wie es Hitler unzweifelhaft ist, Tausende um sich sammeln konnte. Die Erklärung ist einfach: Hitler ist ein Redner, und dem Rhetor ist ein nicht allzu großes Quantum Wahnsinn gestattet, ja, es befeuert ihn. Am Schreibtisch aber muss man dauerhaftere und tiefere Wirkungen erzielen, der Buchschreiber ist mit dem Leser allein, alle Versammlungspsychose fällt weg, da enthüllt sich jeder Kopf. Dieses Buch zeigt Adolf Hitler, wie er ist, arm an Herz, unwissend, eitel, vollkommen phantasielos, und als Milderungsgrund lässt sich nur anführen, dass er offenbar ein unheilbarer Kriegshysteriker ist.“

 

Weiterführende Links:

Quelle: ANNO - Stefan Großmann, Hitlers Memoiren. Neue Freie Presse, Nr. 21959, 1. November 1925, S. 8
Institut für Zeitgeschichte München-Berlin - Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition
Wikipedia: Mein Kampf
Wikipedia: Stephan Großmann
Wikipedia: Adolf Hitler

 

Titelbild: Wikipedia: Deutsche Erstausgabe des ersten Bandes von Mein Kampf, Juli 1925 (Ausstellungsstück des Deutschen Historischen Museums in Berlin)

 

Andreas Markt-Huter, 14-01-2016
 

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