Lydia Davis, Formen der Verstörung

Buch-Cover

Unter Erzählungen erwartet man sich meist etwas Rundes, Bemerkenswertes, wo einem als Leser stilistische Besonderheiten und Aufregung im Plot lange in Erinnerung bleiben.

Die Erzählungen von Lydia Davis bleiben von vorne herein im Langzeitgedächtnis verankert, denn ihre Stories bestehen im Extremfall aus nur einem Satz oder aus einem scheinbar unlesbaren seitenlangen Protokoll.

In diese "Unformen" sind jedoch die heftigsten Ereignisse aus den Segmenten Altersheim, Literaturgeschichte oder familiärer Etikette eingeklebt. Die Titelgebende Erzählung "Formen der Verstörung" (106) erklärt das Programm recht genau. Eine Familie kommuniziert scheinbar im Normbereich der Verständigung miteinander, in Wirklichkeit hat sich in den Jahrzehnten des Zusammenlebens eine Verstörung über die Äußerungen gelegt. Wer immer einen Satz ausstößt, löst beim anderen eine Verstörung aus.

An anderer Stelle werden unter dem Deckmantel der Wissenschaft triviale Ereignisse zu einer gigantischen Beweiskette für Unverständlichkeit ausgebaut. Eine Volksschulklasse aus dem Jahr 1952 schreibt zu Weihnachten einem Mitschüler im Spital Glückwünsche und Besserungsaufforderungen. In der Folge werden diese Briefe im Sinne einer Diplomarbeit untersucht und ausgewertet.

Das Ergebnis, dass es sich um flache Formulierungen und abgegriffene Sprachhülsen handelt, wird durch die Quantifizierung und Lapidarisierung zu einer aufregenden Geschichte der Banalitäten aufgewertet. In einem Literaturflash versucht Kafka für seine Milena etwas zu kochen und verwendet authentische Kafka-Sätze, um die Trivialität des Kochens zu übertünchen.

Eine Geschichte, die das Zeug zu einer Lieblingsgeschichte für jedermann in sich hat, nennt sich "Einen fahren lassen". Die Erzählerin hat einen Furz sowohl gehört als auch gerochen, weiß aber nicht, ob es der Hund oder der Lover war. Eigentlich möchte sie den Urheber herausfinden, kann aber nicht darüber reden, weil der andere dann vielleicht gekränkt ist, wenn er es gar nicht war. Vielleicht aber möchte auch er über den Furz reden, kann aber nicht, weil der Hund vielleicht in einer Nahebeziehung zu ihr steht. Der Furz ist schon längst verflogen, da ist die Verstörung noch immer nicht gelöst. (75)

Die kürzeste Geschichte dieser Verstörens-Sammlung heißt: "Index-Eintrag // Christin: Ich bin keine" (249). Aber selbst diese kleine Erzählung wirkt und löst im Leser die größten Assoziationsketten aus.

Lydia Davis erzählt mit vollem Werkzeug mitten aus einer Werkshalle voller Semantik, Irritation, Konvention und Stoffballen des Alltags heraus. Die Geschichten sind oft unscheinbare Alltagsbegebenheiten, bei denen die Folie der Darstellung gebrochen ist. Da rinnen ständig Sätze während der Anwendung aus, Erwartungen werden inkontinent, Figuren schneiden sich selbst nach amorphen Schablonen aus. Irritierend, aufregend, Lebens-kompatibel!

Lydia Davis, Formen der Verstörung. Erzählungen, a. d. Amerikan. von Klaus Hoffer [Orig.: Varieties of Disturbance, New York 2007]
Graz: Droschl 2011, 272 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-3-85420-784-9

 

Weiterführende Links:
Droschl-Verlag: Lydia Davis, Formen der Verstörung

 

Helmuth Schönauer, 02-09-2011

 

 

Bibliographie

AutorIn

Lydia Davis

Buchtitel

Formen der Verstörung

Originaltitel

Varieties of Disturbance

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

Droschl

Übersetzung

Klaus Hoffer

Seitenzahl

272

Preis in EUR

22,00

ISBN

978-3-85420-784-9

Kurzbiographie AutorIn

Lydia Davis, geb. 1947 in Massachusetts. Lebt in der Nähe von New York.

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