Renate Scrinzi, Vita Minima

Buch-CoverMinimales Leben, Leben auf Sparflamme – aus der Welt der Murmeltiere kennen wir diesen zurückgefahrenen Zustand. Aber nicht nur manche Tiere fahren über den Winter das Leben zurück, auch mitten in der pulsierenden Zivilisation gibt es immer wieder Menschen, die ihr Dasein auf ein Minimum einschränken.

In Renate Scrinzis Erzählung geht es um drei Personen, die für sich und untereinander das Leben eingefroren haben. Die 71-jährige Luise ordnet ihr Leben, quartiert sich noch in einem guten Hotel ein und geht in den Wald um zu sterben. Das Erfrieren mit vollen Sinnen erinnert an diese vom Dasein gebückte Szenerie an der Baumgrenze, wie sie der frühe Thomas Bernhard bearbeitet hat. Freilich hat Luise noch ein Handy dabei, aber es ist ausgeschaltet und so kann die Heldin erst zu spät und für die Erzählung zur rechten Zeit gefunden werden.

In diese dramatische Endzeitwelt sind wie Fleischstreifen in einem Salat Alltagsschnipsel aus dem Leben ihrer Tochter Marie eingestreut. Marie erlebt eine andere Form von „Vita Minima“, sie geht ins Café Friedrich und trinkt einen Cappuccino, der offensichtlich für Arsch und Friedrich ist, sie wäscht sich, probiert Kleider, stößt auf Erinnerungsfetzen aus früher Kindheit und umrahmt diesen trivialen Tag mit einem Passepartout aus Gewöhnlichkeit. In dieser Unauffälligkeit räkelt sich noch Eduard, der zwar einen Mann hergibt, aber keine Beziehung, irgendwie ist er das schwarze Quadrat in einem Kreuzworträtsel, damit nicht falsche Begriffe in einander überlaufen.

Die Erzählung eskaliert, indem sie in den Stillstand des Lebens übergeht. Wie in einem Krimi, wo Jäger und Gejagter im Gegenschnitt aufeinander zu hecheln, driften in diesem Fall im Gegenschnitt Mutter und Tochter auseinander.

So ist es, denkt man sich als Leser, so läuft es wohl ständig im Leben ab, wir finden später jemand erfroren und was bleibt, ist die Erkenntnis, dass wir nichts von dieser verstorbenen Person wissen.

Die Reduktion ist in allen Kunstrichtungen die größte Kunst. Renate Scrinzi fährt in diesem Text alles zurück, was üblicherweise großes Drama ausmacht, und nähert sich erzähltechnisch jenem Silentium, an dem der Musiker John Cage etwa ein Leben lang gearbeitet hat. Nichts ist so schwer, als etwas mitten im rauen Geräuschpegel leise zu halten. Und verblüffend sind zwei Erkenntnisse: Der Mensch braucht tatsächlich fast nichts, wenn er sich auf das Leben konzentriert, und ein Text kommt mit ganz wenigen Elementen aus, um dennoch groß zu sein. - Uff, ein schönes Leseerlebnis!

Renate Scrinzi: Vita Minima. Erzählung.
Bozen: Edition Raetia 2005. 76 Seiten. EUR 9,90. ISBN 88-7283-247-0.

 

Helmuth Schönauer, 15-12-2005

Bibliographie

AutorIn

Renate Scrinzi

Buchtitel

Vita Minima

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2005

Verlag

Edition Raetia

Seitenzahl

76

Preis in EUR

EUR 9,90

ISBN

88-7283-247-0

Kurzbiographie AutorIn

Renate Scrinzi, geb. 1967 in Bozen, lebt am Ritten.

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