Wir haben eine Schatzkammer - einen Schatz - an Literatur

Die englische Schriftstellerin Doris Lessing sprach sich in einer beeindruckenden Nobelpreisrede für das Lesen aus und betonte die Bedeutung von Bibliotheken für die Bildung durch Literatur. Wenn man schreiben, wenn man Literatur produzieren will, muss man in enger Verbindung zu Bibliotheken stehen, zu Büchern, zur Tradition.

Doris Lessing wurde als Doris May Taylor am 22. Oktober 1919 als Tochter eines britischen Kolonialoffiziers und einer Krankenschwester im Iran geboren. Im Jahr 1925 übersiedelte die Familie in das heutige Simbabwe, wo sich die Hoffnung auf Reichtum in der Landwirtschaft aber nicht erfüllte.

Lessing besuchte in der Hauptstadt Salisbury bis zu ihrem 14. Lebensjahr eine katholische Klosterschule bevor sie zu arbeiten begann; zunächst als Kindermädchen, später als Telefonistin, Büroangestellte, Stenographin und Journalistin. 1939 heiratete sie Frank Charles Wisdom, mit dem sie zwei Kinder hatte, die nach der Scheidung beim Vater blieben. Aus ihrer zweiten Ehe mit dem deutschen Emigranten Gottfried Lessing stammte ihr Sohn Peter, der nach dem Ende der Ehe bei seiner Mutter aufwuchs.

1950 wurde ihr erster Roman The grass is singing veröffentlicht, der 1953 unter dem Titel Afrikanische Tragödie in deutscher Sprache erschien. Mit ihrem Roman The Golden Notebook (Das goldene Notizbuch) gelang ihr der endgültige literarische Durchbruch. Das Buch gilt bis heute als ihr großes Hauptwerk und als ein Klassiker der Moderne.


Doris Lessing wurde für ihr umfangreiches literarisches Schaffen mit dem Nobelpreis für Literatur des Jahres 2007 ausgezeichnet. In ihren Werken verarbeitete sie soziale Fragen ebenso, wie das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und Kulturen.

 

2007 wurde ihr von der schwedischen Akademie der Nobelpreis für Literatur verliehen. In der Begründung der Akademie hieß es:

Der Nobelpreis in Literatur des Jahres 2007 wird der englischen Schriftstellerin Doris Lessing verliehen der Epikerin weiblicher Erfahrung, die sich mit Skepsis, Leidenschaft und visionärer Kraft eine zersplitterte Zivilisation zur Prüfung vorgenommen hat.
Nobelpreis: Nobelpreis Literatur 2007

Aus gesundheitlichen Gründen war es der 88-jährigen Schriftstellerin nicht möglich, den Nobelpreis selbst in Empfang zu nehmen und ihre Nobelpreisrede zu halten. Ihre Nobelvorlesung On not winning the Nobel Prize (Den Nobelpreis nicht gewinnen) ist ein Plädoyer für das Lesen und für die wichtige Rolle von Bibliotheken und Literatur für die persönliche Entwicklung der Menschen und der Gesellschaft. Dabei richtet Lessing ihren Blick immer wieder auf ihre Heimat Simbabwe. Sie vergleicht die unerfüllte Sehnsucht der Menschen nach Büchern, nach Literatur und ihren Traum nach einem besseren Leben durch Bildung mit dem Desinteresse an Lesen und Büchern an einer englischen Eliteschule. Dabei beklagt sie, dass viele junge Männer und Frauen, trotz jahrelanger Ausbildung, nichts über die Welt wissen, nichts gelesen haben und sich nur in Fachgebieten auskennen.

In einem Interview mit der Tageszeitung der Standard sprach Doris Lessing über den wichtigen Stellenwert, den das Lesen bereits seit ihrer frühesten Kindheit eingenommen hatte:

Meine Individualität bildete sich durch Lesen. Ich las wie wild - erstaunlich, wie meine Mutter so viele englische Bücher importieren konnte. Kistenweise, englische und amerikanische Literatur. Lesen war zentral.
aus: der Standard, Das England von jetzt ist kälter. 7.11.1998

 

In ihrer Nobelpreisrede unterstreicht sie den engen Zusammenhang von Lesen, Bibliotheken und Bildung:

Noch vor kurzem hätte jeder einigermaßen gebildete Mensch das Lernen geachtet, die Bildung, und unserer großen reichen Literatur Achtung entgegengebracht. Es ist natürlich allgemein bekannt, dass die Leute in jenen glücklichen Zeiten manchmal auch so taten, als würden sie lesen, dass sie so taten, als hätten sie Achtung vor dem Lernen, aber es ist verbürgt, dass sich Arbeiter und Arbeiterinnen nach Büchern sehnten, das beweisen die Bibliotheken, die Hochschulen und Akademien der Arbeiter im 18. und 19. Jahrhundert.

Das Lesen, die Bücher gehörten zur Allgemeinbildung. Wenn ältere Leute mit jüngeren reden, dann begreifen sie, wie sehr Lesen bildet, weil die jungen Leute so viel weniger wissen. Und wenn Kinder nicht lesen können, liegt es daran, dass sie nichts gelesen haben. Aber wir alle kennen diese traurige Geschichte.

 


Lesen spielte für das Selbstbewusstsein des Bürgertums im 18. und 19. Jahrhundert eine überragende Rolle und findet sich auch in zahlreichen Darstellungen der bildenden Kunst dieser Zeit. Wikimedia: Edouard Manet, La Lecture (Beim Lesen), 1868 (Musée dOrsay, Paris)

 

Nur ihr Ende kennen wir nicht. Wir denken an das alte Sprichwort: Reading maketh a full man, das Lesen erst sättigt einen Mann voll und ganz ? und wenn man die entsprechenden Scherze zum Thema Völlerei einmal beiseite lässt ?Lesen erfüllt Männer und Frauen mit Informationen, mit Geschichte, mit Wissen aus allen Gebieten.
© DIE NOBELSTIFTUNG 2007

Der Bruch im Bereich der Bildung geht aber nicht nur zwischen den Generationen sondern auch zwischen den verschiedenen Kulturen, zwischen armen und reichen Ländern. Auf der einen Seite sieht Lessing Kinder und Jugendliche die nach Bildung und Lesestoff hungern auf der anderen Seite lassen sich Halbbildung und Desinteresse finden. Sie beschreibt zwei Schulen, eine in England und eine Nordwest-Simbabwe, deren Ausstattung an Büchern und deren Wunsch nach Lesestoff unterschiedlicher nicht sein könnte:

Am nächsten Tag bin ich in einer Schule im Norden Londons, in einer sehr guten Schule, deren Name allgemein bekannt ist. Es ist eine Jungenschule. Schöne Gebäude und Gartenanlagen. Diese Schüler bekommen jede Woche Besuch von einer bekannten Persönlichkeit, und es liegt in der Natur der Sache, dass es sich dabei manchmal um die Väter, um Verwandte oder sogar um die Mütter der Schüler handelt. Besuch von einer Berühmtheit ist nichts Besonderes für sie.

In Gedanken bin ich bei der staubumwehten Schule in Nordwest-Simbabwe, und ich sehe in die dezent erwartungsvollen Gesichter und versuche, von dem zu erzählen, was ich in der Woche zuvor gesehen habe. Klassenzimmer, in denen es keine Bücher gibt, keine Schulbücher, keinen Atlas, nicht einmal eine Landkarte an der Wand. Eine Schule, in der die Lehrer darum bitten, dass man ihnen Bücher schickt, aus denen sie lernen können, wie man unterrichtet; sie sind selbst erst achtzehn, neunzehn, und sie bitten um Bücher.

Ich erkläre diesen Jungen, dass alle um Bücher bitten, jeder: Bitte schicken Sie uns Bücher. Ganz bestimmt kennt jeder hier, der eine Rede hält, diesen Moment, wenn man in ausdruckslose Gesichter blickt. Die Zuhörer können nicht hören, was man sagt: Sie haben keine Vorstellung im Kopf, die dem entspricht, was man gerade erzählt. In diesem Fall die Vorstellung von einer Schule, die inmitten von Staubwolken steht, wo das Wasser knapp ist und wo man sich zum Halbjahresende eine frisch geschlachtete, in einem großen Topf gekochte Ziege gönnt.

Ist es für diese Schüler denn gar nicht möglich, sich diese nackte Armut vorzustellen? Ich tue, was ich kann. Sie sind höflich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass unter denen welche sind, die Preise gewinnen werden.

 


Der Hunger nach Büchern und Literatur ist in Afrika sehr groß und zahlreiche Organisationen unterstützen die örtlichen Schulen mit Buchlieferungen wie der PEN-Trust in Dodoma / Tanzania. Poverty Eradication Network Trust

 

Dann ist es vorbei, und als ich mit den Lehrern rede, frage ich wie immer, wie die Bibliothek ist und ob die Schüler lesen. Und auch in dieser privilegierten Schule höre ich, was ich immer höre, wenn ich Schulen oder selbst Universitäten besuche.

Sie wissen ja, wie das ist. Viele Jungen haben noch nie gern gelesen, und die Bibliothek wird bei Weitem nicht ausgenutzt. Sie wissen ja, wie das ist. Ja, wir wissen in der Tat, wie das ist. Wir alle. Wir leben in einer zersplitternden Kultur, in der selbst das infrage gestellt ist, was vor ein paar Jahrzehnten noch Gewissheit war, und in der es ganz normal ist, dass junge Männer und Frauen nach jahrelanger Ausbildung nichts über die Welt wissen, nichts gelesen haben und sich nur in irgendeinem Fachgebiet auskennen, zum Beispiel mit Computern. [...]

[...] Er ist ein erstaunliches Phänomen, dieser Hunger nach Büchern, und er lässt sich von Kenia bis zum Kap der Guten Hoffnung beobachten. Noch etwas anderes gehört in diesen Zusammenhang: Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, war im Grunde eine Stroh gedeckte Lehmhütte. So etwas wurde schon immer und überall dort gebaut, wo es Schilf oder Gras, den richtigen Lehm und Pfähle für die Wände gab. Zum Beispiel bei den Angelsachsen.

Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, hatte statt einem vier Zimmer, eins neben dem anderen, und, was das Entscheidende ist, es war voller Bücher. Meine Eltern hatten nicht nur Bücher aus England mit nach Afrika gebracht, meine Mutter bestellte in England auch Bücher für ihre Kinder, Bücher in großen Paketen aus braunem Papier, die die Freude meines jungen Lebens waren. Eine Lehmhütte, aber voller Bücher.
© DIE NOBELSTIFTUNG 2007

An einer anderen Stelle betont Doris Lessing die wichtige Rolle von Bibliotheken als Wahrer der großen Tradition und die wichtige Bedeutung der Tradition für die Arbeit des Schriftstellers:

Das Schreiben und Schriftsteller kommen nicht aus einem Haus ohne Bücher. Da liegt der Unterschied und da liegt das Problem. Ich habe mir die Reden einiger Ihrer vorangegangenen Preisträger angesehen. Nehmen wir den großartigen Pamuk. Er sagt, dass sein Vater fünfzehnhundert Bücher besaß. Seine Begabung ist nicht vom Himmel gefallen, er war verbunden mit der großen Tradition.

Nehmen wir V.S. Naipaul. Er erwähnt, dass die indischen Veden ihren Platz im Gedächtnis seiner Familie hatten. Sein Vater machte ihm Mut zum Schreiben. Und als er dann in England lebte, hat er die British Library benutzt. Also stand er der großen Tradition nahe.

Und nehmen wir John Coetzee. Er stand der großen Tradition nicht nur nahe, er war die Tradition: Er lehrte in Kapstadt Literatur. Ich bedaure es sehr, nie eines seiner Seminare besucht und von diesem wunderbar kühnen, mutigen Kopf gelernt zu haben. Wenn man schreiben, wenn man Literatur produzieren will, muss man in enger Verbindung zu Bibliotheken stehen, zu Büchern, zur Tradition. [...]


Drei Literaturnobelpreisträger für die Bücher und Bibliotheken die Quelle ihrer Inspiration waren: der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk erhielt den Nobelpreis im Jahr 2006, Sir Vidiadhar Surajprasad Naipaul aus Trinidad im Jahr 2001 und der südafrikanische Autor John M. Coetzee wurde 2003 für sein Werk gewürdigt.
Foto: © DIE NOBELSTIFTUNG 2007

 

[...] Bildung ist unabdingbar. Ich habe lauter herrliche Erinnerungen an Afrika im Kopf, die ich wiederaufleben lassen und betrachten kann, wenn ich will. [...] Doch es gibt auch andere Erinnerungen. Ein junger Mann, achtzehn vielleicht, steht in seiner Bibliothek und weint. Ein Amerikaner hat bei einem Besuch eine Bibliothek ohne Bücher gesehen und eine Kiste geschickt, und dieser junge Mann nahm sie nun alle einzeln ehrfürchtig heraus und packte sie in Plastik. Aber die Bücher wurden doch sicher geschickt, damit man sie liest?, sagen wir, und er antwortet: Nein, dann werden sie schmutzig, und wo nehme ich dann wieder welche her? [...]

[...] Wir sehen hier den großen Bildungshunger in Afrika, überall in der Dritten Welt, oder wie auch immer wir jene Teile der Welt nennen, in denen sich Eltern nach Bildung für ihre Kinder sehnen, die sie der Armut entreißt, die ihnen die Vorteile verschafft, die Bildung mit sich bringt. Unsere Bildung, die inzwischen so bedroht ist.
© DIE NOBELSTIFTUNG 2007

Dem Hunger nach Bildung in der so genannten Dritten Welt sieht die Nobelpreisträgerin für Literatur eine Übersättigung mit Belanglosigkeiten in unserer Welt gegen überstehen. Die Erfindung von Fernsehen, Computer und Internet stellt für die Gesellschaft eine ähnliche Revolution dar, wie es in der Vergangenheit der Buchdruck war. Erfindungen wie der Buchdruck, Fernsehen, Computer und Internet haben die Menschheit noch nie bewogen inne zu halten und sich zu fragen: wie werden diese Techniken unser Denken und Leben verändern. Unsere Welt ist bedroht. Was uns aber bleibt und Hoffnung gibt, ist unser Reichtum an Literatur, an Geschichten und Erzählungen aus denen wir immer wieder neu schöpfen können.

Wir sind ein übersättigter Haufen, wir in unserer Welt - unserer bedrohten Welt. Mit Ironie und selbst Zynismus sind wir schnell bei der Hand. Manche Worte und Vorstellungen verwenden wir kaum, so abgenutzt sind sie. Aber vielleicht setzen wir ja manche Worte auch wieder ein, die ihre Macht verloren haben. Wir haben eine Schatzkammer - einen Schatz - an Literatur, der bis zu den Ägyptern, den Griechen, den Römern zurückreicht. Er steht zur Verfügung, dieser Reichtum der Literatur, und jeder, der das Glück hat, auf ihn zu stoßen, kann ihn immer wieder neu entdecken. Einen Schatz. Angenommen, es gäbe ihn nicht. Wie verarmt wir wären, wie leer. Wir besitzen ein Erbe an Sprachen, Gedichten, Geschichtsschreibung, das unerschöpflich ist. Es ist da, immer.

Wir haben ein Vermächtnis an Geschichten, Erzählungen der alten Geschichtenerzähler, deren Namen wir manchmal kennen und manchmal nicht. Geschichtenerzähler hat es immer gegeben, das reicht zurück bis hin zu einer Lichtung im Wald, auf der ein großes Feuer brennt und die alten Schamanen tanzen und singen, denn was wir an Geschichten ererbt haben, begann mit Feuer, mit Zauber, der Geisterwelt. Und dort wird es noch heute bewahrt.
© DIE NOBELSTIFTUNG 2007

 

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Andreas Markt-Huter, 07-01-2008

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