Konrad Paul Liessmann, Lauter Lügen
Was für ein Cover! - Lauter Lügen | Lauter Lägen | Konrad Liessmann | Lauter Lügen. Der Philosoph steht mitten unter Lügen.
Konrad Paul Liessmann ist mit den beiden Tugenden Selbstvertrauen und Selbstironie gesegnet, was vor allem den Lesern zugute kommt. Denn je nach Strenge des Gedankens ist man geneigt, sich manchmal der übersteigerten, dann wieder der lustigen Seite des Denkens zuzuwenden.
„Lauter Lügen“ ist eine Essaysammlung aus den Jahren 2016 bis 2022. Als philosophische Überlegungen wurden die Texte in der „Neuen Zürcher Zeitung“ und „Kleinen Zeitung“ abgedruckt. Beide Zeitungen haben hohes Renommee, wenn auch verschieden gelagertes Publikum, dem liberalen Schweizer Freigeist steht auf der anderen Seite der klerikal Österreichische Kleingeist gegenüber. Die Essays freilich sind so offen gestaltet, dass sie an beiden Segmenten andocken können.
Im Blutkreislauf löst die Engstelle einen mehr oder weniger raschen Eingriff aus, um den bedrohlichen Blutstau abzuwehren, in Verkehrssystemen sind die Engstellen die wahren Maßstäbe für Kapazität. Im Denken freilich gilt die Engstelle als etwas Edles, das es anzusteuern gilt. An den Engstellen nämlich steigen Gedanken am liebsten ab und beginnen sofort zu diskutieren.
Wenn die Blase versagt, beginnt die Literatur erst richtig zu wirken. – Die Kraft der Literatur steckt zwischendurch darin, dass sie Grenzgängerin ist und regelmäßig jenen Schubladen entsteigt, in die man sie zu jeder Epoche aus pragmatisch-pädagogischen Gründen einlagert.
Wie weit darf ich als Mann im Bus die Beine spreizen, ehe ich von Mitfahrenden wegen sexueller Belästigung angezeigt werde? – Diese Frage ist nicht so sehr wegen des Inhalts bemerkenswert, sondern wegen der Überlegung, wer sie beantworten könnte.
Gedichte sind das Ringen um das, was Gedichte sind. Dabei sind diese vielleicht nur Steine aus dem Himmel.
Im Zeitalter von Hashtag-Überschriften ist es durchaus üblich, den Plot einer Nachricht in ein zusammengepresstes ZIP-Wort zu verpacken. Die deutsche Sprache neigt ohnehin zu Wortverpressungen, man denke nur an die Lust diverser Regierungen, ein Gesetz in Wortmonster zu verpacken und als „Gute-Kita-Gesetz“ zu beschließen.
Nichts ist literarisch so schwer zu handeln wie das, was alltäglich auf dem Erlebnis-Teller liegt und als normal gilt. „Das traute Heim“ streckt als pure Formulierung sofort die semantischen Greifarme aus und lullt jene ein, die an der Oberfläche dieses Bildes bleiben.
Einen Südtirol-Roman erkennt man ohne Zweifel daran, dass im ersten Absatz jemand auf Italienisch einen Kaffee bestellt. Mit dem simplen Ausruf „Espresso“ oder „Cappuccino“ ist dann klargestellt, dass die Zweisprachigkeit längst selbstverständlich geworden ist und Bozen, was die Multikultur betrifft, es locker mit der EU-Hauptstadt Brüssel aufnehmen kann.
Der stärkste Satz eines Gedichtbandes ist meist der Titel. Nicht nur dass er im Bibliothekswesen ständig zitiert wird, denn die Ordnung in der Bibliothek geschieht durch Zitieren, oft drängt sich so ein Titel auch ins Langzeitgedächtnis vor und nistet als Gassenhauer.
Die Literatur hat ja eine doppelte Aufgabe, was die Glaubwürdigkeit betrifft. Einerseits muss sie etwas schier Undenkbares wahr machen, indem es als Literatur erzählt wird, und andererseits führt sie zum Kopfschütteln, wenn das eingepasste Weltbild des Lesers durch Abweichung von der Erzählnorm zum Vibrieren gebracht wird. – Historiker sagen nicht umsonst, dass es keine erzählte Geschichte gibt, die nicht aus der „getätigten Geschichte“ resultiert oder diese induziert.