Joachim Gunter Hammer, Glückes schiefe Türme
Werkzeuge lassen sich in zwei Richtungen hin einsetzen, einmal, um einen bestimmten Sachverhalt zu erkunden, zu korrigieren oder zu optimieren, und im umgekehrten Sinn, indem man schaut, wofür sich dieses Werkzeug zusätzlich verwenden ließe.
Joachim Gunter Hammer hat über Jahrzehnte hinweg lyrisches Werkzeug erfunden, mit dem er vor allem phänomenologische, botanische oder molekular-physikalische Vorgänge erkundet. Als „Schweizermesser“ dieser lyrischen Erforschungen dienen ihm oft 17- und 19-Silbler. Diese an alte fernöstliche Dichtkunst anknüpfende Schärfe im Umgang mit Silben und Wortmaterial bewährt sich auch im europäischen Gebrauch, wenn Vorgänge aus der politischen Schwarzweißmalerei plötzlich mit einem über-sensiblen Besteck zerlegt und einem neuen Sinn zugeführt werden. In einer schlagwortartigen Einschätzung der Lyrik von Joachim Gunter Hammer könnte man sagen, seine Gedichte laufen ähnlich quer durch die Welt wie das heiße Messer durch die Butter.
In manchen Kulturen wird das Parterre eines Gebäudes mit „Plattform eins“ bezeichnet. Das trifft sich gut, denn unter Parterre versteht man im psychologischen Kontext einen Zustand, bei dem die Helden seltsam am Boden sind. – „Heute bin ich wieder ganz Parterre!“
Einer der geheimnisvollsten Adelstitel lautet Infantin. Damit ist ein anerkanntes weibliches Kind eines spanischen Herrscherhauses gemeint, das auf der Ersatzbank der Kindheit sitzt und auf den Einsatz wartet. Das kann lange dauern, wenn man nur an den aktuellen König von England denkt, der als Siebzigjähriger erst von seinem Infantentum erlöst wurde.
Eine Reise durch Europa ist mit einem Brettspiel vergleichbar. Auf dem Kontinent als geographischer Unterlage zieht das lyrische Ich mit seinem Körper Spuren der Tagesverfassung. Mit der Zeit ergibt sich ein plastisches Stimmungsbild, das sich als geographisches, politisches und subjektiv-lyrisches „Kunstwerk“ lesen lässt.
Blues ist eine Lebensstimmung, die sich über eine ganze Jahreszeit, einen Landstrich oder einen kompletten Ort legen kann. Elias Schneitter hat als Erforscher und Herausgeber von Beat-Literatur den Blues quasi am Wegrand geerbt, denn die Grenzen zwischen den beiden Künsten der Peripherie (Beat und Blues) sind fließend.
Nicht umsonst rufen Piloten, wenn sie abstürzen, noch eine Wortfügung aus ferner Kindheit in den Voice-Recorder, ehe Stille dem harten Aufschlag folgt. Mit zunehmendem Alter berichten Sprachanwender verschiedenster Klangfarben davon, dass ihnen in Augenblicken der Überraschung, der Freude und des Entsetzen Partikel aus der Kindheit in den Sinn kommen.
Die Literatur ist immer in Bewegung, sie lässt sich als solche kaum fassen, am ehesten bleibt sie in Lektüre-Reusen und an Fliegen-Ködern hängen, wenn sie nicht überhaupt ausgetrocknet ist wie viele Gewässer bei den Fischen.
In einem radikalen Definitionsversuch lässt sich die Formel aufstellen: „Literatur ist Leergut.“ Die Formel wird etwas milder, wenn man sie mit der Beschreibung ergänzt, wonach ins Leergut Autor und Leser ihre Gedanken einlagern oder daraus entnehmen. Im Hintergrund schwingt diese schöne Kommunikationsüberlegung mit, wonach es Containment und Content braucht, damit ein Buch Zufriedenheit verströmen kann.
Was für eine Verknüpfung des horizontalen Himmelsgewölbes mit einer vertikalen Tiefbohrung in den Untergrund! – In manchen Mundarten wird das Wort „interirdisch“ wie selbstverständlich verwendet, um das Sichtbare mit dem Unsichtbaren zu verknüpfen.
Äquidistanz ist ein Zustand, der in vielen Segmenten menschlichen Lebens eine anerkannte Rolle spielt. Ob im juristischen, physikalischen oder poetischen Bereich, überall steigt die Zustimmung, wenn die Äquidistanz ins Spiel gebracht wird. Einen gesellschaftlichen Durchbruch erreichte diese Haltung während der großen Pandemie, als alle angehalten waren, Abstand zu allem zu halten.