Tiroler Gegenwartsliteratur

Regina Hilber, Landaufnahmen

h.schoenauer - 24.03.2017

Raffinierte Titel sind immer mehrdeutig wie die Lyrik überhaupt. Landaufnahmen können sich auf die Rezeption besinnen, wonach jemand Aufnahmen von einem Land macht und es als Kunstrichtung zwischen Selfie und Landschaftsmalerei ablegt. Die Landaufnahmen können sich aber auch auf die Gastfreundschaft eines Landes beziehen, wenn das Land jemanden willkommen heißt und aufnimmt.

Regina Hilber sortiert ihre Gedichte einerseits unter dem Lichtbogen konkreter Landschaften wie Hohe Tatra, Alpen oder Friaul ein, andererseits transformiert sie zustände und Stimmungen zu emotionalen Landschaften wie Sommer Slowenien.

Margit von Elzenbaum, Zwischen jetzt und jetzt

h.schoenauer - 22.03.2017

Eine Geschichte verändert sich naturgemäß, wenn sie in eine andere Sprache übersetzt wird. Oft erschließt sich der tiefere Sinn erst, wenn man den Text zweisprachig plastisch vor sich sieht wie eine Stereoaufnahme von einem Gelände.

Margit von Elzenbaum greift das fundamentale Thema der Südtiroler, nämlich die Mehrsprachigkeit, in ihren elf Geschichte auf, freilich geht es dabei um den Gap zwischen Dialekt und verschrifteter Sprache. Manche Geschichten sind als kurze lyrische Impression angelegt und logischerweise im Dialekt gehalten, die längeren und komplexeren Geschichten halten sich an die Schriftsprache. Einen Sonderfall stellt die Titel-gebende Story „Zwischen jetzt und jetzt“ dar, worin an besonders emotionalen Stellen oder wenn eine Heldin in den inneren Monolog wechselt, der Dialekt nahezu brachial loslegt.

Alexia Zöggeler, Die gute Landkräuterküche

h.schoenauer - 15.03.2017

Kräuter gelten als magische Wunderstoffe und als Lebens-Elixiere schlechthin. In der Literatur treten sie immer dann auf, wenn die Fiktion in die Realität umschlägt und die Schwerkraft in Luftigkeit. Drogenfahnder misstrauen Kräutern generell, weil ihre Anwender den Fahndern immer einen Schritt voraus sind. Vor allem ist die Zahl der Kräuter unendlich. Und in der Küche werden Kräuter als flächendeckender Trüffel eingesetzt, alles, was mit ihnen in Berührung kommt, gilt als veredelt.

„Die gute Landkräuterküche“ strotzt schon im Titel vor lauter ermunternden Begriffen, am liebsten würde man einzeln ins Land zu den Kräutern und in die Küche reisen. Vor allem wenn das alles von Alexia Zöggeler betreut wird, die sich augenzwinkernd Kräuterpädagogin nennt, die stets von einer Riesenschar an Kräutern umgeben ist.

Martin Kolozs, Sommer ohne Sonne

h.schoenauer - 01.03.2017

Als Katastrophe gilt im Tourismus generell jedes Phänomen, wonach die Jahreszeiten aus dem gewohnten Bild ausbüchsen. Winter ohne Schnee, Herbst ohne Blätter, Frühjahr ohne Blüten gelten als Desaster.

Martin Kolozs nimmt diese negativen Idealbilder zum Anlass, um darin eine Künstler-Karriere zu installieren. Sommer ohne Sonne zeigt einen Mann, der am Höhepunkt seiner Liebes- und Genitalfähigkeit ohne Sonne einem diffusen Horizont entgegen dämmert.

Anna Rottensteiner, Nur ein Wimpernschlag

h.schoenauer - 17.02.2017

Die Literatur schafft die Möglichkeit, die Zeit so zu verdichten, dass sie in einem Wimpernschlag untergebracht werden kann. Diese Verdichtung lässt sich auf ein ganzes Leben ausdehnen, so dass in quasi in einem Standbild der Erinnerung alles aufgezeichnet ist.

Anna Rottensteiner führt eine Ich-Erzählerin durch eine scheinbar klaglose Kindheit herauf bis zu jenem Punkt, an dem das Leben abgerundet und seltsam offen ist. In den Stationen Sommer-Kindheit, Sommer-Tourismus und Daseins-Herbst reflektiert die Erzählerin über eine makellos aussortierte Erinnerungsgalerie, in der die Bilder harmonisch ausgestellt sind.

Waltraud Mittich, Micòl

h.schoenauer - 23.01.2017

Eine besonders professionelle Form einer Roman-Struktur besteht im Nacherzählen, Umschreiben und persönlichen Infiltrieren eines anerkannten Textes. 1962 ist der Roman „Die Gärten der Finzi Contini“ von Giorgio Bassani erschienen, 1975 kommt die Verfilmung durch Vittorio De Sica.

Buch und Film fesseln Waltraud Mittich sofort und lassen sie ein Leben lang nicht mehr los. Jetzt hat sie eine Figur der Gartenszenerie, nämlich das überlebende jüdische Mädchen Micòl, mit einem anderen Schicksal versehen und sie als kämpfende, selbstbewusste Frau durch das Nachkriegseuropa geschickt.

Reinhard Kocznar, Machtblind

h.schoenauer - 18.01.2017

Viele Kriminalfälle entstehen ja dadurch, dass die Wortwahl oft völlig divergierende Deutungen eines Sachverhaltes zulässt. Machtblind kann heißen, dass jemand wegen seiner Macht blind wird, oder aber, dass jemand gegenüber der Macht blind wird.

Reinhard Kocznar wählt zwar die Form des Kriminalromans, damit alles wenigstens halbwegs eine Ordnung hat, in Wirklichkeit aber beschreibt er das diffuse Treiben rund um mysteriöse Geschäfte, wo alles unsicher ist und nur Wörter wie Knarre oder Kohle Stabilität verheißen. „Er haute ab, als die Knarre sprach.“ (126)

Norbert Gstrein, In der freien Welt

h.schoenauer - 11.01.2017

In den guten multiplen Romanen gibt es so viele Lesemöglichkeiten, dass zwei Leser im Gespräch darüber oft eine Zeitlang brauchen, um zu kapieren, dass sie den gleichen Roman gelesen haben.

Norbert Gstreins Roman „In der freien Welt“ ist multipel, weit, frei, und groß wie die ganze literarisch erfassbare Welt. Je nach Wahl des Lese-Eingangs lässt sich der Roman als Krimi, politische Bestandsaufnahme, Travelling-Fields, Freundschaftserzählung oder Aussalzung eines perversen Literaturbetriebes lesen.

Paul Flora, Karikaturen

h.schoenauer - 21.12.2016

Das Publikum sieht oft etwas ganz Anderes in den Bildern, als es der Urheber vielleicht gedacht hat. So sagen die Tiroler jedenfalls zu allem, was wie eine Federzeichnung ausschaut, Karikatur, weil sie die Welt meist als Federzeichnung empfinden.

Paul Flora hat immer gelitten, wenn man ihn auf die Kunst eines Karikaturisten heruntergebrochen hat. Zu Recht hat er immer darauf verwiesen, dass die Karikaturen nur einen eingeschränkten Zeitraum seines Lebens an Aufmerksamkeit verschlungen haben.

Gerhard Kofler, Meeressammlungen. / Collezioni marine

h.schoenauer - 14.11.2016

Manchmal erzählt ein winziger Druckfehler eine ganze Geschichte der Hoffnung und Unsterblichkeit. Im Abschlusskommentar zum dritten Band „Das Gedächtnis der Wellen“ von Gerhard Kofler wird sein letztes Gedicht auf 24. August 2015 datiert, ein logischer Gedanke, denn niemand kann es noch glauben, dass der Autor 2005 gestorben ist.

Der dritte Teil der Vermächtnis-Trilogie gibt den Abschnitten „Argentinischer Settebello“, „Allein und italienisch“ sowie „Meeressammlungen“ Quartier. Das Überraschende und beinahe Unglaubliche dieser Gedichte besteht in der einseitigen Sprache des Italienischen. Es wird stark gerätselt, warum Gerhard Kofler das Modell der Tandem-Dichtung aufgegeben hat, worin Italienisch – Deutsch zusammengeschweißt sind, undenkbar, dass man eine der beiden Sprachen herauslöste oder bevorzugte.