helga pregesbauer, coronaBei der Stofflektüre aus dem Ersten Weltkrieg ist es nach hundert Jahren egal, ob jemand in den ersten Wochen gestorben ist, wie Georg Trakl 1914 in Grodek, oder im zweiten Jahr der Katastrophe, wie August Stramm 1915 am Dnjepr-Bug-Kanal.

Corona wird vielleicht in hundert Jahren ähnlich abgekühlt betrachtet werden, noch ist offen, welche Schriftsteller dann literarisch noch am Leben sein werden.

friedrich hahn, peter und peterKann ich mir selbst das glauben, was ich mir selbst erzähle? Muss ich mich an das vorgegebene Schicksal halten, oder darf ich selbst in meine Identität eingreifen und dadurch die Geschichte verändern?

Friedrich Hahn kümmert sich Roman für Roman um Identität und Lebenssinn der „kleinen Leute“, die im Laufe des Lebens aus der eigenen Geschichte herausrutschen. Sie haben letztlich nichts als sich selbst, und müssen sich als Figuren durch die vielen Sinn-Attacken ducken, die über sie herfallen. Dabei gehen zumindest die Romane bei Friedrich Hahn immer gut aus, vermitteln sie doch zwei Botschaften: Jeder ist zu einem Leben im Standby-Modus fähig, und jede Vita lässt sich aussitzen bis hin zum wohlverdienten Tod.

michel jean, kukumWenn man die großen Erzählungen von Mutter Erde auf sich einwirken lässt, so sind die Geschichten oft wie das eigene Leben aufgebaut. Viele von uns haben eine unversehrte Kindheit, eine jähe Aufbruchsstimmung und das Desaster von Habgier und Wachstum erlebt, ehe wir jetzt alt und kaputt auf die Erde schauen und seufzen, dass wir deren Untergang gerade nicht mehr erleben werden.

Die meisten unserer Jahrgänge haben das Lesen gelernt mit scheinbar unversehrten Geschichten von Robinson Crusoe oder Lederstrumpf. Wir Leser mussten alt werden, um nachzulesen, wie die Geschichte von der Eroberung und Verwüstung der Natur wirklich erzählt werden muss.

lydia davis, es ist, wie's istEine einzige gelungene Shortstory ist schon aufregend wie das Gesamtwerk einer Künstlerin, zeigt sie doch auf engstem Raum jeweils eine zentrale Thematik, eine solitäre Erzähltechnik und eine konnotierte Lebenserfahrung. Lydia Davis erfüllt diese Kriterien in beinahe jeder ihrer Geschichten, und manchmal setzt sie dazu neue Maßstäbe, wie in der ersten Geschichte des Bandes „Es ist, wie’s ist“.

Unter dem mageren, weil vielsagenden Titel „Story“ setzt die Sammlung mit einem prägnanten Ereignis ein, das aus heiterem Himmel zu Unruhe und psychischer Entgleisung führt. Eine Erzählerin hat ein recht ungeklärtes Verhältnis zu ihrem Freund, manchmal springt sie eine Panikattacke an, wenn sie nicht genau weiß, was er gerade macht. Jetzt am Abend hat er nicht angerufen, er wird vielleicht mit einer Freundin zusammen sein. Er reagiert nicht auf Anrufe, die Erzählerin beginnt ihre Unruhe abzuarbeiten und aufzuschreiben. „Ich wechsele in die dritte Person und ins Präteritum!“ (5)

susanna bihari 3 mal liebeSchon seit Jahrhunderten wird die Liebe mit einer Kanonenkugel verglichen, bei der Abschuss und Einschlag gleich heftig sind. Dazwischen liegen die drei ballistischen Phasen aus dem Flugverkehr, Steigen, Gleiten, Sinken.

Susanna Bihari hält sich mit ihren Liebesgedichten an diese ballistischen Grundregeln, drei mal Liebe bedeutet vorerst, dass die Phasen sauber abgearbeitet werden mit schönen Formulierungen: „Du bist Kapitel 1“ (9), „Du bist Kapitel 2“ (33), „Und du bist Kapitel 3“ (55). Diese Gliederung lässt verschiedene Phasen-Lover zu, es kann aber auch ein einzelner sein, der als Held alles durchmachen muss.

thomas ballhausen - sagen reloadedSagen sind das, was die Leute über die Jahrhunderte sagen. Diese witzige Definition erfreut zwar nicht das Fachpublikum, erklärt aber, dass Sagen nie fertig sind und in jeder Generation neu erzählt werden müssen. Und wenn es einmal keine Sagen mehr geben sollte, werden auch die Leute nichts mehr sagen, weil sie ausgestorben sind.

An der Kante zu einer neuen Epoche empfiehlt es sich, den alten Erzählstoff zu sichten und zu „reloaden“. Thomas Ballhausen und Sophie Reyer initiieren dieses Projekt am Vorabend der Pandemie, als wollten sie für einen Überlebenskoffer sichten, was man für die neue Zeit einpacken und neu erzählen soll.

helmuth schönauer, antriebsloser frachter vor norwegen„In der Erinnerung ist etwas fixiert / indem eine gültige Fassung abgespeichert ist im Hirn / du denkst nicht mehr daran / dass es eine Alternative gegeben hätte damals / sondern alles ist unverrückbar gültig / wie ein Flugschreiber einer abgestürzten Maschine / der Flug mag zwar ungünstig ausgegangen sein / die Daten freilich sind fix“ (S. 16)

Erinnerungen werden trüb und verschwimmen im Laufe der Zeit. Nur die festgehaltenen Wahrnehmungen fixieren sich und werden zur vergangenen Realität. Lyrisch poetische Erinnerungen und Betrachtungen fixierter Ereignisse befreien den eingefrorenen Blick und eröffnen einen Neuen.

bernhard strobel, nach den gespensternWie bei Huhn und Ei ist auch die Urheberschaft der Gespenster diskutierbar. Suchen nun Gespenster die verschreckte Seele auf und setzen sich im Schreckzentrum nieder, oder treten zuerst Hirngespinste auf, die dann als abgeheilte Gespenster in die verschreckte Umwelt entlassen werden?

Bernhard Strobel geht in seinen dreizehn Erzählungen diesem Wechselspiel nach. Dabei wird man als Leser miteinbezogen in dieses Wirrwarr aus Gewissheiten, seelischen Brüchen, Familientragödien oder einfach dem Auseinanderbrechen jeglicher Selbstsicherheit.

andrej platonow, der makedonische offizierDie Erde entwickelt sich entweder zu einem reinen Kristall, der Wasser spendet, oder der Erdball verliert sich in einer giftigen Blase.

Andrej Platonows Kernsatz über die Entwicklung der Sowjetunion wird in den 1930er Jahren unter Stalin nicht gerade mit Wonne aufgenommen. Der Autor wird sofort geächtet, verliert seine Wohnung und Zulassung als Schriftsteller. In seinem Brotberuf als Bewässerungsingenieur hat er täglich mit Verhaftung zu rechnen. Und als er selbst schon fertiggemacht ist, geht die Verfolgung auf seinen Sohn über, der daran stirbt.

peter simon altmann, suite poétologiqueEssays sind Texte, die ähnlich Brücken unter großer Spannung stehen müssen, um die Traglast unauffällig zu bewältigen. Die beiden Brückenköpfe sind in diesem Vergleich das schreibende Subjekt und der scheinbar objektive Tatbestand eines Themas. Je nach Verfassung des Subjekts und Notwendigkeit des Objekts kann dabei die Sichtweise regellos zwischen beiden Polen verschoben werden, der Essay lebt von dieser Regellosigkeit.

Peter Simon Altmann schiebt den Essay-Regler in seiner „Suite poétologique“ vollends in die Richtung des schreibenden Subjekts, denn das ist ja das Thema seiner zwölf Überlegungen. In der losen Abfolge einer Suite greifen die Gedanken über die allmähliche Verfestigung eines lesenden Menschen hin zu einem Schriftsteller zuerst ineinander über, ehe sie sich unterhaken und ein deutliches Bild ergeben.