Bernhard Hüttenegger, Auf dem Grund des Brunnens
In alten Märchenbildern ist die Welt wie eine Sanduhr aus Sternen aufgebaut. Wer in die Tiefe eines Brunnens blickt, sieht darin die Sterne des Firmaments gespiegelt, wer in den Himmel schaut, wird in die Tiefe hinabgezogen wie in einen Brunnen.
Bernhard Hüttenegger verwendet dieses Bild für den Titel des vierten Bandes seiner ausklingenden Autobiographie. Längst hat er sich zum Schreiben heikler Angelegenheiten, und das eigene Leben ist eine solche, die Figur des Albin Kienberger zugelegt, der in diesem Roman in die Provinz Rovigo in Venetien reist.
Wenn dir beim Aufschlagen eines Buches alles fremd ist, lies es wie ein Lexikon!
Staatstragende Romane sollten wenigstens zehn Jahre lang warten, ehe sie eine Gegenwart historisch abgekühlte beschreiben. Alles, was zu nahe an den aktuellen Kalender herangeführt ist, klingt nach Wahlkampf, Propaganda oder Streitschrift.
Der eine kommt aus dem Nebel zurück und verkündet, er habe die Aussichtswarte verfehlt und daher nichts gesehen, der andere nimmt vor dem Bildschirm des Internisten Platz und kriegt eine Vorschau auf seine Krankengeschichte, irgendwo ganz hinten sitzt der Tod.
In der Literatur schaffen es nur wenige Titel, dass schon bei ihrer Erwähnung sofort ein Stück Lebensprogramm aufpoppt. „Faust“, „Das Schloss“, „Verstörung“ lassen nicht nur einen Text in der Lese-Erinnerung hochschnellen, sie zeigen in einem einzigen Aufblitzen Helden, die um ihr Schicksal ringen. Aus feministischer Sicht sind solche Highlights etwa „Madame Bovary“, „Pippi Langstrumpf“ oder eben „Nora“.
Warum sind manche Romane gegliedert und andere eine einzige Textwurst? – Beides zeigt das Ringen der Autoren um das Publikum. Manche versteigen sich dabei in Gegenden, wo es nichts mehr zu erklären, deuten oder gliedern gibt. Nicht so beim „Wal“, hier wird das Unbeschreibliche in ein überschaubares Erzählkonzept gegossen.
„»Wenn du keine Shortstory zusammenbringst, stecken wir dich ins Altersheim!« Die Kinder sind gnadenlos, zumal sie gut ausgebildet sind. Sie haben Entertainment, Psychologie, Theologie und Politikwissenschaft studiert, lauter Fächer, die den Vater in die Verwahrung bringen können, wenn er nicht mehr richtig drauf ist auf seiner blassen Lebensspur.“ (S. 7)
Gedichte sind wie Pflanzen, die einen Nährboden brauchen, auch wenn sie mit Luftwurzeln arbeiten. Diese Nähr-Substanz kann die vorgespielte Erfahrung eines Ichs sein, eine didaktische Zusammenfassung eines Erkenntnisprozesses oder auch das Verwerten ausgestreuter Literaturpartikel.
Lässt sich das große Amerika besser würdigen, wenn man einen Hollywood-Film mit voller Dramaturgie im Dschungel dreht und dabei einen Maya-Tempel als Kulisse missbraucht, oder ist es gleich besser, diese Pyramide abzutragen und missbräuchlich in New York aufzustellen?
„Unser Gehirn ist nicht in Stein gemeißelt.“ (77) So ein Satz verändert nicht nur die gesamte Weltlage des Denkens, sondern weist darauf hin, dass es in der Kunst tatsächlich immer Überraschungen und Weiterentwicklungen gibt.