Cornelia Franz, Goldene Steine
„Die beiden Typen standen vor ihm, als wären sie aus dem Nichts aufgetaucht. Sie mussten sich hinter dem Altglascontainer versteckt haben. »Da ist er ja«, sagte der Kleinere der beiden. Leon guckte verunsichert. Hatten die auf ihn gewartet? »Wie läufst du hier eigentlich rum, du Jude?« Der andere, ein Honk mit einem grottenhässlichen Tattoo am Hals, grinste ihn an. Und zack, riss er ihm die Mütze vom Schädel – das witzige kleine Käppi, das er selbst vor einer Woche einem Typen vom Kopf gezupft hatte …“ (S. 8)
Drei Jugendliche, die auf unterschiedliche Weise Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht haben, lernen einander kennen und entwickeln schnell eine intensive Freundschaft. Dabei lernen sie viel über Hass aber auch über Freundschaft und sich selbst.
"»Es wird bestimmt niemand kommen. Du kannst das Tor also zulassen«, sprach Hubert, in der Hoffnung, Lila umzustimmen. Allerdings klang er wenig überzeugt von seinen eigenen Worten. »Da muss ich dich enttäuschen«, antwortete Lila erfreut. »Ich sehe da schon jemanden die Straße heraufkommen! « »Wer ist es denn?«, fragte Willi. Doch Lila antwortete nicht. Langsam, ganz langsam sanken ihre Mundwinkel und ihre Augen wurden immer größer." (S. 16)
„Ich bewegte den Zeigefinger über die Seite und deutete auf eine Anzeige, die vor etwa einer Stunde in sämtlichen Tageszeitungen der Stadt aufgetaucht war. Die Tinte schimmerte leuchtend violett, wie der Blutmohn in Aligney oder amethystfarbener Pannesamt. Sie stach aus dem Rest hervor, ein eigenartiges Leuchtsignal in einem Meer von Schwarz und Weiß. »Hotel Magnifique. Wir stellen ein. Interessierte melden sich morgen zur Mittagsstunde. Bitte mit gepackter Tasche für Anderswo. Abreise ist um Mitternacht.«“ (S. 13)
„Alice gähnte und ließ sich ins Gras fallen. Plötzlich entdeckte sie ein weißes Kaninchen mit roten Augen. Es zog eine Uhr aus der Westentasche und rief: »Oh weh, ich komme ja zu spät.« So schnell es konnte, hoppelte das Kaninchen davon. Alice sprang auf und folgte dem seltsamen Tier. Sie sah, wie das Kaninchen unter der Hecke in einem großen Loch verschwand.“ (S. 9 f)
„Es war einmal ein sehr einsamer Dachs. Früher war er als Kapitän über die Weltmeere gesegelt. Doch der Muth hatte ihn längst verlassen und er war zu alt und ängstlich für Abenteuer. Er lebte ganz allein auf einer Insel mitten im Meer. Sein Segelboot Lilly lag ungenutzt am Steg vertäut.“
„Sie waren kaum in die neue Wohnung gezogen, da wusste Toni schon ganz sicher, dass hier merkwürdige Dinge im Gange waren. Eigentlich wusste sie es schon vorher. Noch bevor sie eingezogen waren. Bevor sie das Haus mit ihrer neuen Wohnung überhaupt betreten hatten. Exakt zwei Minuten vorher.“ (S. 11)
„Hazel Sinnett träumte von Fingern. Hageren, spindeldürren Fingern mit Knöcheln so knubbelig, wie Walnüsse und graugrünem Fleisch, das sich in dünnen Streifen von ihnen abschälte. Manchmal waren die Finger gar nicht Teil einer Hand, sondern lebendige Wesen, die auf einem flachen Tisch wie Insektenbeine zuckten.“ (S. 24)
„Einen Moment später folgte ein weiterer Tunnel. Dieser schien kaum ein Ende zu nehmen. Alma tastete im Dunkeln nach einem Lichtschalter. In modernen Zügen waren Lampen über den Sitzen angebracht. Tempus aber war wohl für so etwas zu alt. Unvermittelt verließ der Zug den Tunnel. Es wurde wieder hell. Und Alma gegenüber saß eine Frau.“ (S. 16)
„Rüpel Ramsay residierte in einer ramponierten, rechtwinkligen, rundum runtergekommenen Ruine auf dem rückwärtigen Dach, einem Rübenkeller und einer rotierenden Drehtür. Rechts der Ruine ragten die Reste eines Ringwalls aus dem runtergetretenen Rasen.“
„»Sie wird mich retten oder zerstören. Hassen oder lieben«, spreche ich die Wahrheit aus. Navien ist mein Pendant. Meine Antithese. Jeder Engel besitzt ein solches Wesen und spürt es bereits bei der Geburt. Nur dass es noch nie ein Dämon war. Es gab Fälle, in denen das Pendant eines Engels ein Mensch war. Aber eine Heroe … Das könnte mich umbringen.“ (S. 37)