Erzählung

Vera Zwerger Bonell, Schattenwärts

andreas.markt-huter - 31.03.2023

vera zwerger bonell, schattenwärtsDie meisten Pflanzen und Lebewesen drängen, wenn möglich, ins Helle und an die Sonne. Bei den Menschen freilich führt dieses Streben oft stracks ins Dunkel, und manches Schicksal scheint eine Bewegung „schattenwärts“ zu sein.

Vera Zwerger Bonell bringt mit ihren Lebensskizzen drei Frauenschicksale ans Leselicht, ehe diese dann wohl wie alle Stoffe in den Büchern in den Schatten der Archive eintauchen werden. Die Geschichten sind der Autorin erzählt worden, es gibt kaum noch Zeitzeugen. Die Leser dürfen am Vorgang des Verlöschens von Schicksalen noch einmal teilnehmen, indem sie vielleicht ihr eigenes Leben hineinprojizieren in des Gedankenspiel mit der Vergänglichkeit.

Ludwig Roman Fleischer, Weana Gschicht und Weana Gschichtln

h.schoenauer - 27.03.2023

ludwig roman fleischer, weana gschichtDas Buch von der Wiener Universal-Geschichte betritt man am besten, indem man wie durch einen akustischen Triumphbogen der Sprache mit zwei CDs hineinhüpft in den Text. „Weana Gschicht“ ist eine mündliche Angelegenheit, gleichsam öffentlich wie intim. Im Vorsatz sind die beiden güldenen CDs eingeklemmt. Der beigestellte Buchtext hat die Funktion, das Auge still zu halten, damit sich das Gehör konzentrieren kann. Wie eine Partitur zeigt der Text vor allem die Gliederung, die dem Jahrhundertwerk innewohnt.

Ludwig Roman Fleischer ist ein Sprachkünstler und Erwachsenenbildner. Mit seinem ironischen Duktus stellt er fürs erste klar, dass man ruhig seiner Stimme lauschen kann, es wird keine spannendere in der nächsten Zeit auftreten. Und die voluminöse Prägnanz gibt dem Vortrag jene Glaubwürdigkeit, die es braucht, um die volle Wucht des Themas „Geschichte“ auszuhalten.

H. C. Artmann, Der Wackelatlas

h.schoenauer - 06.03.2023

h. c. artmann, der wackelatlasIn der Mythologie ist der Atlas etwas vom Stabilsten und Schwersten, was ein Titan tragen kann. Wenn nun aber der Atlas zu wackeln und zu schwächeln beginnt, wie zerbrechlich müssen dann erst Halbgötter und Menschen sein?

H. C. Artmann ist ein kosmopolitischer Poet, in allen Sprachen und Ländern zu Hause, ein Geschichten- und Sprachenerfinder, ein eruptiver Lyriker, und vor allem ein unsterblicher Benützer eines Ehrengrabes. So frech und selbstbewusst hat er sich selbst eingeschätzt, wohl wissend, dass ihn in seiner Erhabenheit als Solitär letztlich niemand berühren und korrigieren konnte. Und so musste er mit seiner Poetik im Leib sein Leben allein zu Ende bringen.

Ronald Weinberger, Die Astronomie und der liebe Gott

h.schoenauer - 22.02.2023

ronald weinberger, die astronomie und der liebe gottBücher über große Themen unterliegen dem Erzählparadoxon: Je größer das Thema, desto bescheidener hat die Erzählhaltung auszufallen.

Ronald Weinberger nimmt sich berufsbedingt das größte denkbare Thema zu Herzen, das wahlweise mit All, Weltraum oder Universum bezeichnet wird. Seinen bescheidenen Erzählstandpunkt drückt er in einer Widmung aus, indem er sich bei den Eltern bedankt, die ihn als Teil des Universums auf die Welt gebracht haben. Nebenbei sind sie fröhlich geblieben und erst in hohem Alter abgeklärt verstorben.

Mircea Cărtărescu, Melancolia

h.schoenauer - 08.02.2023

mircea cartarescu, melancoliaEs gibt rare Wörter, die eine Epoche, eine Kindheit, einen Kontinent oder eine Kunstrichtung beschreiben können. Melancholie ist das bekannteste davon.

„Melancolia“ war einst im kalten Krieg ein Begriff, der den Künstlern „hinter dem Vorhang“ (wir hielten uns damals als davor angesiedelt) einen gewissen politischen Spielraum gab, in einer kollektivierten Gesellschaft ein privates Gefühl auszudrücken. Zwar gehörte auch die Psyche der Öffentlichkeit, aber die Melancholie konnte privat bleiben, sie galt als das intimste Gefühl eines Individuums.

Alois Schöpf, Das Böse im Guten

h.schoenauer - 01.02.2023

alois schöpf, das böse im gutenDie meisten Tirolernden werden es gar nicht mehr wissen, was das ist: Diskutieren, Nachdenken, mit Frohsinn eine unübliche Meinung über sich ergehen zu lassen. Spätestens seit der Lockdown-Epoche sind auch in Tirol die Menschen in psychischen Einzelkabinen untergebracht, der digitale Informationsaustausch ist roh und brutal, der vielbeschworene Vereinsgeist ausgeflogen, seit man sich nur mehr zufällig trifft, und die öffentliche Diskussion ist ein Desaster.

Alois Schöpf setzt seit zwei Jahren diesem Befund ansatzweise etwas entgegen, indem er für seinen „schoepfblog.at“ Denk-affine Menschen einlädt, Themen zu finden, zu entwickeln und für den öffentlichen Diskurs aufzubereiten.

Oskar Aichinger, Ich steig in den Zug und setz mich ans Fenster

h.schoenauer - 18.01.2023

oskar aichinger, ich stieg in den zug und setzte mich ans fensterDie Eisenbahn ist nur so nebenher ein Transportmittel, eigentlich ist sie seit fast 200 Jahren ein Stück Kultur, staatstragend wie die Oper, unvergesslich wie die Nationalbibliothek, aufregend wie die Bundeshymne.

Oskar Aichinger weiß um die Magie der Eisenbahn, weshalb er ein erzählendes Ich, das ungeschminkt zu ihm hält, in einen Zug steigen lässt und am Fenster platziert. Ausgangspunkte der ÖBB-Reisen sind zum einen die Kindheit in Oberösterreich, zum anderen Wien als Drehscheibe, von der aus sich die Lokomotiven über die Schienenstränge der Republik hermachen.

Willi Giuliani, Ein Innsbrucker Western

h.schoenauer - 23.12.2022

willi giuliani, ein innsbrucker westernJe globalisierter im Netz die Literatur auftritt, man spricht ja von Weltliteratur, umso punktgenauer muss sich darin die Lokalliteratur bewähren. Ein aufregendes „Lokalprogramm“ liefert dabei die Innsbrucker Verlagsbuchhandlung Wagner’sche, die als eine der ältesten der Welt schon alle möglichen Literaturformen erlebt hat. In der Serie „Erinnerungen an Innsbruck“ sind mittlerweile gut zwanzig Bände über Stadtteile, Berufe und besondere Schicksale erschienen. Umgerechnet auf die Bewohner des jeweiligen Themas erreicht diese Serie grandiose Vertriebszahlen.

Willi Giuliani beackert für das Regal „Erinnerungen an Innsbruck“ den Stadtteil Höttinger Au, der bis in die 1940er Jahre Sumpf, Brache und aufgelassene kaiserliche Jagd gewesen ist. Der Stadtteil wird ähnlich entwickelt wie der sogenannte Wilde Westen, zumindest was Tiere und Pflanzen betrifft, wird dabei ähnlich brutal vorgegangen wie beim Feldzug amerikanischer Siedler in Richtung El Dorado. Auf das Gold umgerechnet wäre im konkreten Fall das verheißene Paradies der Innsbrucker Flughafen, auf dem ja auch tatsächlich so manches touristische Nugget geschürft wird.

Heinz A. Pachernegg, Auf Reisen

h.schoenauer - 21.12.2022

heinz pachernegg, auf reisenDer Tourismus ist an die Erfindung der Fotografie gekoppelt. Wo es nämlich nichts zu fotografieren gibt, hat es auch keinen Sinn, hinzufahren. Umgekehrt muss ein Fotograf ständig mit touristischer Geste unterwegs sein, will er seinen Pixelspeicher am Jahresende voll haben.

Heinz A. Pachernegg ist als Berufsfotograf und Fotoessayist viel „auf Reisen“ und kommt daher dem berühmten Beatnik-Motto „on the road“ sehr nahe, wonach Menschen, Wörter und Bilder ständig zu sich selbst unterwegs sind. Das Zusammenschmelzen dieser drei Bewegungskörper geschieht in der Pareidolie, wie Andrea Wolfmayr in ihrem Einleitungsessay bemerkt. Pareidolie bezeichnet das Phänomen, in Dingen und Mustern vermeintliche Gesichter und vertraute Wesen oder Gegenstände zu erkennen.

Rudolf Lasselsberger, Willi und die Mohnblumen

h.schoenauer - 07.12.2022

rudolf lasselsberger, willi und die mohnblumenIm Idealfall steht einem als realistischem Schreib-Helden ein literarischer Freund bei, der so etwas ist wie ein Medium, eine Therapie, der Kater am Morgen oder das Passwort für eine verzwickte URL.

Rudolf Lasselsberger hat nun schon seit längerer Zeit das Glück, dass ihm Willi beim Schreiben und Leben beisteht. „Willi und die Mohnblumen“ heißt Band sieben der Willologie. Das Thema ist das Auffächern der Ereignisse in verschiedene Gleichzeitigkeiten.