Drago Jancar, Nordlicht

Oft presst sich einem der Anfangssatz eines Romans wie ein literarischer Ohrwurm ins Gedächtnis, in skurrilen Büchern wie bei Drago Jancars „Nordlicht“ kann aber auch das Schluss-Bild unvergesslich sein.

In dieser Geschichte, die man sich offensichtlich auch schwerhörig zu Gemüte führen kann, kommt ein gewisser Josef Erdmann aus Lienz zu Jahresbeginn 1938 in seiner Geburtsstadt Maribor an, weil er mit Jaroslav einen geschäftlichen Termin ausgemacht hat. Wie bei einem echten Warte-Stück Marke Godot kommt der Erwartete natürlich nie.

Viele Jahre später sitzt Erdmann in der überheizten und von der über dem Herd trocknenden und dunstenden Wäsche muffigen Küche in Lienz. Wieder erzählt er die seltsame lange Geschichte, die die Mutter schon kennt und die sie gerne hört. Genau genommen hört sie sie nicht, denn sie ist schon alt und schwerhörig. (261)

Erdmann quartiert sich in diversen Hotels ein, schäkert mit dem Postfräulein, wenn er die neuesten Ausreden seines Geschäftspartners abholt und fühlt sich in Maribor tatsächlich wie in der Stadt seiner Kindheit. Aber wahrscheinlich würde er sich in jeder Stadt an irgendwas erinnern, es muss ja nicht immer die Kindheit sein. (44)

Wenn ich nicht bald verschwinde, passiert etwas, denkt Erdmann noch, da geht es auch schon los. Wortlos wird er von der Frau eines Geschäftsmanns aus einem Cafe abgeschleppt und zum Geliebten gemacht. „Bitte nicht mit den Fingern zwischen den Beinen!“ ist alles, was die Spontan-Geliebte Margerita noch sagt. Ab jetzt hat Erdmann ein Verhältnis, das nicht ungefährlich ist, denn die naserümpfende Bürgerschicht wirft wie in jeder Stadt auch in Maribor ein besonderes Auge auf Fremde, die den Liebhaber geben.

Neben der Geliebten legt sich Erdmann ein exzessives Nachtleben zu und trinkt vor allem mit dem Sakral-Säufer Fedjatin. Das heißt, er trinkt eigentlich mit sich allein in Anwesenheit des Säufers.

„Man sollte nur tagsüber leben!“ (171) sagt sich Ermann, da ist es aber schon zu spät. In einem Waldstück wird seine Geliebte zusammen mit einem Mann überfallen und ermordet, Erdmann wird verdächtigt, der Täter zu sein. Ab da an deliriert er endgültig und wird schließlich nach Lienz zurückgestellt.

Was sich an Wahnsinn im Helden aufstaut, lagert sich auch um die Stadt Maribor ab. Radikalisierte Gruppen befehden einander, ein Pathologe macht Prognosen über die Vernichtung der Juden, die Nazis übernehmen Österreich und über der Stadt brennt eines Tages ein Nordlicht, so dass sich die Bevölkerung in voller Endzeitstimmung auf den Boden wirft.

Drago Jancar lässt mit „Nordlicht“ in einer scheinbar x-beliebigen Stadt mit scheinbar x-beliebigem Personal die Welt untergehen. Es ist immer der öffentliche Wahnsinn, der die Individuen letzen Endes zu Boden ringt. – Eine skurrile, fast jenseitige Sicht der Welt!

Drago Jancar, Nordlicht. Roman. A. d. Slowen. von Klaus Detlef Olof. [Orig.: Severni sij, 1990].
Wien, Bozen: folio 2011. 267 Seiten. EUR 22,90. ISBN 978-3-85256-576-7.


Weiterführende Links:
Folio-Verlag: Drago Jancar, Nordlicht
Wikipedia: Drago Jancar

 

Helmuth Schönauer 12/01/12

Bibliographie

AutorIn

Drago Jancar

Buchtitel

Nordlicht

Originaltitel

Severni sij

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

Folio

Übersetzung

Klaus Detlef Olof

Seitenzahl

267

Preis in EUR

22,90

ISBN

978-3-85256-576-7

Kurzbiographie AutorIn

Drago Jancar, geb. 1948, lebt in Maribor.

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