Kurt Palm, Die Besucher

Besucher sind normalerweise anonyme, neutrale und friedliche Wesen, die auf der sprichwörtlichen Besuchergalerie Platz nehmen oder eine Statistik als gezählte Individuen auffetten.

In Kurt Palms Roman freilich treten Besucher höchst eigenwillig und alles andere als harmlos auf. Im Mittelpunkt einer Leidensgeschichte zwischen Selbstmitleid und Wahnsinn steht der Journalist Martin Koller, der mitten im Leben einen Hörsturz erleidet und in der Folge beinahe verreckt.

Zuerst einmal bewirkt der Hörsturz eine neue Qualität der Wahrnehmung, nichts ist mehr dosiert, alles taucht als Überreaktion in das Gesichtsfeld des Helden. Die Panik im Krankenhaus setzt sich zu Hause fort und erigiert auf unangenehme Weise, als sich die Frau des Leidenden gerade jetzt ein Kind wünscht und den Eisprung zelebriert.

Die Ordnung des Helden ist offensichtlich durch den Hörsturz zerbrochen, eine satte Psychose macht sich breit, und allein die Mails des Arbeitgebers lassen sich vor Angst nicht öffnen, so dass eine Kündigung anfällt.

Zu allem Unglück tut auch noch die Mutter kund, sterben zu wollen. Martin Koller fährt zu ihr ans Sterbebett und leistet sich aus Verzweiflung einen One-Night-Stand mit einer Ärztin, die dabei sinnloserweise schwanger wird. Je chaotischer so ein Sex abläuft, umso wuchtiger sind seine Auswirkungen, denkt sich der Held noch, der schon seit Wochen als Zeugungsmaschine versagt hat.

Und tatsächlich stirbt dann die Mutter völlig untheatralisch. „Im richtigen Leben starb wirklich jeder für sich allein.“ (237) Plötzlich wimmelt es im Haus der Toten von geräuschlosen Gestalten, die einen seltsamen a-historischen Duft verströmen und in graue Decken eingehüllt sind. Jetzt wird der Held völlig wahnsinnig, denn diese handfesten Gestalten scheinen für die anderen unsichtbar zu sein.
Martin Koller macht seinem Namen alle Ehre und fasst einen umfassenden Seelen-Koller aus. „Die Zeit verging nicht sondern verendete. Jede Bewegung des Sekundenzeigers bedeutete, dass die Zeit sich selbst auffraß.“ (268)

Gegen diese Apathie helfen auch nicht herzerfrischende Sätze der trauernden Schwester, als sie als gestandene Frau in Tränen ausbricht und ruft: „Jetzt sind wir Vollwaisen.“ (262)


Kurt Palm erzählt den Schrecken mit Geduld, während man als Leser umblättert, kann man sich fix darauf verlassen, dass alles noch schlimmer wird. Und der Palm‘sche Schrecken ist deshalb so unüberschaubar, weil er so realistisch ist.

Ein scheinbar logischer Plot zwischen einem Hörsturz am Morgen und einem Todesfall am nächsten Tag artet in eine Katastrophe aus, die jedes Zeitmaß sprengt. - Spannend, logisch, grausam ironisch!

Kurt Palm, Die Besucher. Roman.
St. Pölten: Residenz 2012. 276 Seiten. EUR 21,90. ISBN 978-3-7017-1587-9.
 

Weiterführende Links:
Residenz-Verlag: Kurt Palm, Die Besucher
Wikipedia: Kurt Palm

 

Helmuth Schönauer, 06-02-2012

Bibliographie

AutorIn

Kurt Palm

Buchtitel

Die Besucher

Erscheinungsort

St. Pölten

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Residenz-Verlag

Seitenzahl

276

Preis in EUR

21,90

ISBN

978-3-7017-1587-9

Kurzbiographie AutorIn

Kurt Palm, geb. 1955 in Vöcklabruck, lebt in Wien.

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