Jörg Isermeyer, Alles andere als normal

„Aber nicht mal, als dein Körper schlapp macht und du zusammenklappst, will du wahrhaben, dass du nicht weglaufen kannst. Dass du dich deinem Gegner stellen musst. Weil du es selbst bist.“ (5)

Lukas Erdmann lebt in Berlin, ist 12 Jahre alt und sieht sich selbst als ziemlich gewöhnlichen Jungen, der nichts wirklich besonders gut kann oder durch besondere Eigenschaften heraussticht. Das einzige was ihn wirklich interessiert ist Star Wars. Vielleicht macht gerade deshalb Jule einen so großen Eindruck auf ihn, als er das Mädchen dabei ertappt, wie sie heimlich durch ein Fenster seinen Nachbarn beobachtet und dann mit großer Schlagfertigkeit auf seine Fragen reagiert. Als er selbst in das Fenster des Nachbarn schaut, drückt Jule kurzerhand die Klingel und bringt ihn damit vor seinem Nachbarn in ziemliche Bedrängnis.

Verärgert darüber, so tölpelhaft auf Glatteis geführt worden zu sein, hofft Lukas dieses unberechenbare Mädchen nie mehr wieder zu sehen. Umso verwirrter ist Lukas als Jule etwas später plötzlich mitten in seinem Zimmer steht.

„Was machst du hier?“ Ich brauchte eine Ewigkeit, um diesen Satz überhaupt zu denken. Die Antwort dagegen ließ nicht lange auf sich warten. „Hausaufgabenkontrolle.“ (23)

So sehr Lukas das überaus schlagfertige Mädchen auch nervt, so magisch wird er auch von ihrem Temperament und ihrer frechen Art, sich an keine Regeln zu halten, angezogen. Dabei könnten die beiden unterschiedlicher nicht sein. Während Lukas aus einer wohlhabenden Familie kommt und vor allem von seiner Mutter übermäßig behütet und bemuttert wird, stammt Jule aus armen Verhältnissen. Ihre Mutter ist den ganzen Tag in einem Supermarkt tätig und ist gezwungen, viele unbezahlte Überstunden zu machen, um ihren schlechtbezahlten Job nicht zu verlieren. Ihr arbeitsloser Bruder sitzt den ganzen Tag vor dem Fernseher und lässt seinen Frust häufig an seiner Schwester aus.

Lukas und Jule kommen sich immer näher und unternehmen gemeinsame Verfolgungsjagden und beobachten Menschen, zu denen sie sich abenteuerliche und spannende Geschichten ausdenken. Während Lukas endlich aus seinem langweiligen, behüteten Alltag ausbrechen kann, sind für Jule die Treffen mit Lukas eine Möglichkeit ihrem tristen und sorgenvollen Zuhause zu entkommen. Als die beiden eines Tages einen Jugendlichen verfolgen, kommen sie einer Bande von Fahrraddieben auf die Schliche. Als Jule sich plötzlich aus unerklärlichen Gründen weigert, die Polizei zu informieren, wird die neue Freundschaft der beiden auf die Probe gestellt.

Jörg Isermeyer erzählt die Geschichte immer wieder wechselnd aus der Sicht beider 12-jährigen Protagonisten und lässt die Leserinnen und Leser damit am Leben beider Figuren direkt teilnehmen. Während für Lukas aber die Perspektive des Ich-Erzählers gewählt wird, erleben wir Jule aus einer Du-Perspektive, wodurch gezielt eine unterschiedliche Nähe der Leserinnen und Leser zu den beiden Helden der Geschichte hergestellt wird.

Mit den zwei unterschiedlichen sozialen Welten treffen auch unterschiedliche Sichtweisen auf das Leben unmittelbar aufeinander. Während Lukas Ethik sich aus seiner behüteten Lebenswelt heraus vor allem aus der virtuellen Welt von Star Wars und dessen „Gut und Böse Kosmos“ speist, hat Jule lernen müssen, dass der Unterschied von Richtig und Falsch durch viele Grautöne gezeichnet wird.

Isermeyer ist mit diesem Kinderroman gleichzeitig eine zutiefst berührende, spannende und überaus freche und humorvolle Geschichte rund um die Lebenswelt von Heranwachsenden gelungen, die aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen ihren Platz in der Welt finden müssen. Ein überaus empfehlenswertes Kinderbuch, das mit viel Sinn für Humor die Augen für Welt und die wichtigen Dinge im Leben zu öffnen vermag.

Jörg Isermeyer, Alles andere als normal. Ab 10 Jahren
Weinheim: Beltz & Gelberg Verlag 2014, 213 Seiten, 13,40 €, ISBN 978-3-407-82047-1

Weiterführender Link:
Beltz & Gelberg: Jörg Isermeyer, Alles andere als normal

Andreas Markt-Huter, 26-08-2015