Kirsten Boie, Der Junge, der Gedanken lesen konnte

„Bronislaw!“, hab ich gebrüllt. Ich bin nicht weggerannt. Ich hab mich neben ihm auf die Knie fallen lassen. Und das war von meinem Abenteuer nicht mal der Anfang, das war schon die Mitte. Ich hab es nur nicht gewusst. (6)

Valentin ist zehn Jahre alt und ein wenig klein für sein Alter. Er war mit seiner Mutter von Kasachstan nach Deutschland ausgewandert, nachdem sein älterer Bruder Artjom tödlich verunglückte. Als seine Mutter zur Marktleiterin in einem Supermarkt befördert wird, wechseln sie ihre Wohnung und Valentin steht wieder einmal ganz ohne Freunde da.

Valentin ist wie magisch von dem nahegelegenen Friedhof angezogen, in dem er rasch Bekanntschaft mit den täglichen Friedhofsbesuchern schließt. Da ist zunächst einmal der schon sehr alte Herr Wilhelm Schmidt, dessen Frau bereits verstorben ist, der Valentin mit seinem Hund im Friedhof spazieren lässt, oder eine Obdachlose, die von allen nur „Dicke Frau“ genannt wird, deren Leben, nach dem Tod ihres Kindes, völlig aus dem Ruder geraten war.

Da sind aber auch noch das Ehepaar Eva und ihr Ehemann Klaus-Peter Schilinsky, die sich bereits zu Lebzeiten ein Grab gekauft hatten und die Ruhestätte nun für ihr tägliches Picknick nutzten, zu dem alle immer herzlich geladen waren und der polnische Friedhofsarbeiter Bronislaw, die Valentin bald schon wie eine zweite Familie ans Herz wachsen.

Bei einem Besuch im Friedhof bemerkt Valentin schließlich auch, dass er die Fähigkeit besitzt, die Gedanken anderer Menschen zu sehen, wenn er ihnen nur direkt in die Augen schaut. Eine Fähigkeit, die ihm beim kommenden Kriminalfall, zugutekommen wird.

Drei Ereignisse veranlassen Valentin schließlich ein Detektivbüro zu eröffnen: Eine goldene Dollarmünze aus dem Jahr 1861 der Obdachlosen „Dicke Frau“ verschwindet auf unerklärliche Weise. Dann verunsichern ungeklärte Juwelendiebstähle die Gegend, die von einem mysteriösen Gentleman-Räuber verübt werden. Zu guter Letzt wird der Friedhofswächter Bronislaw von hinten niedergeschlagen, ohne dass ihm etwas gestohlen wird.

Gemeinsam mit Mesut, seinem neuen türkischen Freund, macht sich Valentin daran, die Fälle zu lösen, wobei immer mehr Indizien ausgerechnet gegen den sympathischen und freundlichen Bronislaw zu sprechen scheinen.

„Der Junge, der Gedanken lesen konnte“ besticht durch seinen Kosmos außergewöhnlicher Charaktere, die überwiegend von Außenseitern wie alten Menschen, Ausländern und Obdachlosen bevölkert werden, deren sozialer Lebensmittelpunkt der Friedhof bildet. Menschen mit traurigen Schicksalen, die am Rande der Gesellschaft stehen und die mit ihrer fröhlichen und gastfreundlichen Lebenshaltung einem Steinbeckschen Roman entsprungen sein könnten.

Kirsten Boie gelingt es mit viel Gefühl, den kindlichen Umgang mit Verlust und Tod zu thematisieren und in eine Kriminalgeschichte einzubinden, die bis zum Schluss spannend bleibt. Ein ebenso unterhaltsames wie empfehlenswertes Buch, das aber auch zum Nachdenken anregt, das Einzelschicksal von Menschen fokussiert und gängige Vorurteile in Frage stellt.

Kirsten Boie, Der Junge, der Gedanken lesen konnte. Ein Friedhofskrimi, ill. v. Regina Kehn, ab 10 Jahren
Hamburg: Oetinger-Verlag 2012, 320 Seiten, 15,40 €, ISBN 978-3-7891-3191-2

 

Weiterführende Links:
Oetinger-Verlag: Kirsten Boie, Der Junge, der Gedanken lesen konnte
Wikipedia: Kirsten Boie
Wikipedia: Regina Kehn

 

Andreas Markt-Huter, 28-11-2012

Bibliographie

AutorIn

Kirsten Boie

Buchtitel

Der Junge, der Gedanken lesen konnte. Ein Friedhofskrimi

Erscheinungsort

Hamburg

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Oetinger-Verlag

Illustration

Regina Kehn

Seitenzahl

320

Preis in EUR

15,40

ISBN

978-3-7891-3191-2

Lesealter

Zielgruppe

Kurzbiographie AutorIn

Kirsten Boie wurde in Hamburg geboren und ist eine der renommiertesten deutschen Autorinnen des modernen Kinder- und Jugendromans. Sie lebt mit ihrem Mann im Einzugsbereich von Hamburg.<br />Regina Kehn wurde in Hamburg, studierte an der Hamburger Fachhochschule für Gestaltung und arbeitet seit 1988 als freie Illustratorin für Zeitschriften und Verlage.